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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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langer Zeit vertrauter Duft stieg dem Rabbi in die Nase. Er konnte ihn nicht genau zuordnen, dieses Aroma hatte etwas mit Wöchnerinnen zu tun oder mit Neugeborenen. Ein Geruch, den er sich aus einer gewissen Scham heraus nicht näher erklären wollte. Ein Geruch, der ihn nichts anging.
       »Es geschieht nicht in unkeuscher Absicht – Oi, mein armer Rücken! –, ich möchte nur sichergehen, bitte verzeihen Sie mir!«
       Und dann, es gab keinen Zweifel, hörte er ein leises Stöhnen, einen menschlichen Laut, der ihn wiederum an etwas erinnerte, so schmerzlich, daß er glaubte, er würde sich jetzt und hier auf den Boden werfen und statt der Tür die Dielenbretter mit den Fäusten bearbeiten müssen, nicht reuig, sondern aus Verzweiflung. Aber Birnbaum faßte sich und biß die Zähne zusammen. Dann warf er sich mit der Schulter gegen die Tür, die sofort nachgab, als hätte sie nur darauf gewartet, daß endlich jemand die Kammer, in der sich das Wunder vollzogen hatte, betrat, um nach dem Rechten zu sehen.
       Die junge Frau, an deren Bett er trat, war in schwerem Fieber, das erkannte er sofort. Zart und zerbrechlich wirkte sie, und Schweißperlen standen wie Tau auf ihrem Gesicht, dessen krause Stirn und Brauen genauso wie die Bitterkeit des Mundes, selbst im Schlaf, ein Abbild sämtlicher menschlicher Sorgen zu sein schienen. Sie krampfte, hatte Schüttelfrost, und der Rabbi, der ein kurzes Gebet gesprochen hatte, war sicher, einen Menschen zu sehen, der dem Tod schon näher war als dem Leben. Birnbaum mußte sich zwingen, die Scham abzulegen, die der Umstand seiner Anwesenheit ihn fühlen ließ, um sich daran zu gewöhnen, daß seine Hilfe und sein Mitwirken erforderlich war, daß er eingreifen mußte, wenn noch Zeit blieb, in dieses fremde Leben, das er mit Argwohn aus der Ferne betrachtet hatte und das jetzt schutzlos vor ihm lag.
       Er hatte sich doch nur auf die Gewohnheit des Sühnetages eingestellt, auf die Ausübung der Rituale, war in Gedanken schon halb aus dem Haus und auf dem Weg zur Synagoge gewesen. Ausgerechnet jetzt mußte ihm sein Schicksal ein mit dem Tode ringendes Kind (eine Frau in diesem Alter war ein Kind für Birnbaum, der sich fühlte wie der Älteste aller Synagogen aller Zeiten) in die Arme legen, das, um dem Faß den Boden auszuschlagen, eine seltsame, längliche Tasche an seine Brust gedrückt hielt und (er hatte es probiert) die Finger nicht davon lösen wollte. Wie vollständig unbegreiflich das alles war! Und wie immer in den letzten Jahren, wenn er sich einer Aufgabe nicht gewachsen fühlte, und das geschah häufig, fragte er sich, ob das Leben nicht ein wenig zu großzügig mit den Prüfungen umging, die es für ihn vorgesehen hatte. Aber gleich nachdem ihm dieser Gedanke gekommen war, versuchte er ihn klammheimlich von der Schiefertafel in seinem Kopf zu löschen, denn er wußte, wenn man mit wem auch immer über diese Herausforderungen zu rechten begann, würde es mit Sicherheit noch viel schlimmer kommen. Versunken in Betrachtungen über die Kranke, die da vor ihm lag und der er geistesabwesend die glühende Stirn zu streicheln begonnen hatte, fing er bald an, auch den übrigen Teil des Raumes zu inspizieren. Zunächst fiel ihm nur ein mit Wäsche gefüllter Blecheimer auf, über dem ein paar Fliegen kreisten. Er versuchte jetzt, wo es sozusagen seine Pflicht geworden war, auch den Geruch zu identifizieren, der in der Kammer herrschte: süßlich, aber nicht penetrant wie derjenige der Bettwanzen, sondern auf eine unschuldige Weise. Er ließ an Milch denken, an frische Sägespäne, an die rosige Kopfhaut eines Kindes.
       Warum nur, dachte der Rabbi, sitze ich immer noch hier wie ein beschickerter Bandit, dem der Wodka sein Liebchen fortgespült hat. Warum laufe ich nicht auf die Straße und brülle wie ein Eselschor, daß alle Ärzte zusammenkommen und der Tod selbst ein Einsehen hat? Bin wohl doch schon ein alter Kaker.
       An seinen Füßen, die schmutzig und ergeben neben dem Bett standen und alle Empfindsamkeit abgetreten und nordwärts in Richtung von Birnbaums Brust geschickt hatten, wo sie im Augenblick mehr gebraucht wurde, konnte es jedenfalls nicht liegen. Hätte man sämtliche Splitter des Brennholzes, das da unter dem Bett gestapelt war, hergenommen und sie ihm auf einmal durch die Zehen getrieben, dann wäre Birnbaums Antwort nur ein Schulterzucken gewesen. ›Das‹, hätte er dann vielleicht noch gesagt, ›macht den Kohl jetzt auch nicht mehr

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