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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Nationalitäten vorantreiben und prügelten bekennende Sozialisten und am liebsten aufmüpfige Juden durch die Straßen. Aber das half nicht viel.
       In den elitären Salons und Clubs der Stadt wurden Russen nur selten aufgenommen – sie waren zu ungebildet. Russen brachten es bestenfalls bis auf den mittleren Teil der Hühnerleiter von Geld, Erfolg und Ansehen, dort tranken sie dann ein Fläschchen Wodka, beleidigten einen einflußreichen Franzosen und purzelten wieder hinunter. Zwar konnte die Hälfte von Odessas Bevölkerung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lesen und schreiben. Die meisten Analphabeten fanden sich jedoch unter Russen und Ukrainern.
       Birnbaum, der erst vor wenigen Jahren sein verbranntes Dorf in Richtung Odessa zu Fuß verlassen hatte, stellte gleichmütig fest, daß diese Stadt ›natürlich‹ gottlos, war. Wie sollte es denn auch anders sein? Ob Jude oder Lutheraner, orthodoxer Christ oder Muselmann, alle Odessiten waren in der Hauptsache Merkur verpflichtet, dem römischen Heidengott des Handels und der Diebe. Die Gesinnungen seiner Jünger waren wesensverwandt. So wie die Bürger der Innenstadt von der Aufnahme im Schwarzmeeryachtclub, einer Datscha in Fontan und einem Daimlermobil mit goldbetreßtem Chauffeur träumten, wollten die Diebe seidene Pyjamas, eine Kiste voll Gold und einen Ruf, der in Liedern und Versen noch die Herzen der Enkel erwärmen würde.
       Jeder freilich probierte eigene Methoden: »Ein Dieb plündert dich nur aus, aber ein anständiger Odessit wird dir ein Geschäft vorschlagen«, sagte Birnbaum.
       Kein Zweifel, durch die vom Gelderwerb und der Prahlerei begeisterte Stadt im Reiche Nicolais II. wehte ein freier Geist und das leicht ordinäre Parfüm der Hafenstadt. »Petersburg«, pflegte Rabbi Birnbaum zu sagen, »ist eben von einem Mann gegründet worden, »Odessa aber von einer Frau.«
       Mama Odessa, wie die Einwohner ihre Stadt nannten, war eine dralle Diva, ein leichtsinniges Mädchen und zugleich eine aufopfernde Mutter, die für ihre Kinder, die Kaufleute und die Diebe gleichermaßen sorgte.
      
       Ein Reisender, der diese Stadt besuchte und durch ihr Zentrum streifte, fühlte sich, als habe er die mediterrane Version eines russischen Paradieses betreten.
       Der Besucher ging staunend etwa durch das Bulvarni-Viertel, den Finanzdistrikt, der durch den Lebensstil der odessitischen Aristokratie geprägt war. Hier befand sich die Lebensader der Stadt, die weithin bekannte Deribasovskaja, eine von erlesenen Ladengeschäften und bedeutenden Restaurants gesäumte Prachtstraße, in der tagsüber die Beau Monde flanierte, in der nach der neusten Mode gekleidete Paare in Automobilen und Kutschen Korso fuhren und sich auf die vorzüglichste Weise langweilten, ganz wie in Paris oder Rom. Da gab es das Fankoni , ein Café ersten Ranges, in dem die Kellner Frack und Glacéhandschuhe trugen und parfümierten verschwenderisch in Seide gekleideten Fabelwesen Kaviar und Champagner servierten, in solchen Mengen, daß, wie der Besucher beobachten konnte, die Gäste auf der blumengeschmückten Terrasse beständig der Ohnmacht nahe waren. Wer dort bei den Auserwählten saß, benebelt von der kostspieligen Süße des Lebens, der hatte es geschafft, gleichgültig ob Großfinanzier oder Großhazardeur. Im Damenbereich des Lokals erspähte man Frauen, deren Gesichtszüge so fein und deren Garderobe so elegant war, daß man vor Ehrfurcht glaubte weinen zu müssen. Der Besucher war sich sogleich sicher darüber, daß seine Heirat mit der Baronin von S. ein Irrtum gewesen sein mußte, solange solche Herrlichkeit existierte. Unter den Platanen des Alexanderboulevards, der den Hafen überblickte, verliebte er sich in ein Blumenmädchen. Um in glühende Selbstzweifel zu geraten, als er etwas später das zweitberühmteste Café der Stadt, das extravagante Robina in der Katharinenstraße aufsuchte, wo eine Federboa, über deren Flaum das Gesicht einer melancholischen Göttin glänzte, ihm fast den Verstand raubte. Er hatte Paris, Wien, Rom und Berlin besucht, um das Leben zu ergründen, und ausgerechnet in einer südrussischen Hafenstadt, in die ihn nur niedrige Geschäfte geführt hatten (er war Branntweingroßhändler), sollte er am Sinn seiner bisherigen Vergnügungen zweifeln? Er strich beschwingt durch den Alexanderpark, vorbei an Konzertbühnen und Losbuden und lachte der dort versammelten Menschheit freundlich ins Gesicht. Unter dem Belvedere des

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