Trojaspiel
den Kubus und den Kegel?«
Theo runzelte wieder gedankenvoll die Stirn, aber er ahnte bereits, wenigstens in der Moldavanka würde sich dergleichen nicht auftreiben lassen.
»Die Mathematik hat die Wissenschaften hervorgebracht, die unsere Häuser und unsere Maschinen bauen«, fuhr Lukin theatralisch fort, »eines Tages werden wir mit Hilfe der Mathematik den Weltraum bereisen, und wenn wir dort auf ein Wesen treffen, das uns überlegen ist, werden wir feststellen – der einzige Grund für diese Überlegenheit ist, es beherrscht die Mathematik besser als wir!«
Die Leidenschaft in Lukins Augen imponierte Theo. Dieser unscheinbare dürre Erwachsene wurde zu einem theaterreifen Helden, solange er über sein Steckenpferd sprach, das selbst in den einfachsten Formen gewöhnlichen Menschen Kopfzerbrechen bereitete. Wie oft verrechneten sich die Markthändler selbst bei kleinsten Beträgen! Gott sei Dank jedoch meistens zu ihrem Vorteil.
Lukin hatte während seines Studiums Deutsch und das Griechisch des Altertums gelernt und unterrichtete den Jungen auch in diesen Sprachen, auf Bitten der Mutter. Aber was bedeuteten schon Sprachen. Er tat es also widerwillig, bis Theo zwei Aufgaben aus einem Entwurf für ein mathematisches Rätselbuch, den sein zerstreuter Lehrer zurückgelassen hatte, denkbar originell löste: In der Kastanienmännchensiedlung gab es mittlerweile eine Schule, und Lukin konnte die Ergebnisse seiner Kniffeleien mit Bleistift an die Papptafel gemalt sehen.
1. Wie zieht man 45 von 45 ab, so daß 45 übrigbleibt?*
2. Wie beweist man, daß die Hälfte von 18 gleich zehn ist?*
Wie konnte es einen solchen Jungen nur geben, fragten sich die Hausbewohner. Wie hatten sie zu den Hütern eines unbeschnittenen Knaben werden können, der so still und bescheiden über Talente verfügte, mit denen man im Varieté ein Vermögen hätte machen können! Seine Sprachkünste wenigstens mußten ihn in den diplomatischen Dienst bringen. Wie treu und zugleich abwesend die blauen Augen blickten, wenn man über seinen Schopf strich!
»Geht es dir gut, mein Junge?«
»Nein«, erwiderte er, und die Stimme klang dabei so merkwürdig klar und gleichmütig, daß man den philosophischen Charakter seiner Antwort gleich erkannte. Ein Lächeln belebte dann die verträumten Augen des Kleinen, und er berichtete, daß der Hund am Ende der Straße wohl vor Kummer gestorben sei, wie die von Äneas verlassene Dido, denn er habe ihm seit drei Tagen etwas zu fressen gebracht. Aber der Hund habe es nicht angerührt und nicht einmal geknurrt, wenn andere Hunde seine Mahlzeit stahlen. Wie unsinnig und weise seine Gedanken waren! Und ausgerechnet an Jom Kippur war er geboren worden!
Warum laßt ihr mich nicht endlich in Ruhe, dachte der Junge. Aber es reichte, wenn seine Mutter, für die er am Ende doch alles tat, um ihn zu versöhnen am Sonntag Pfannkuchen mit Akazienblüten buk. Den ganzen Vormittag über hatte er die Blüten im Duchovskigarten aufgelesen.
Der Stolz, den er in Lisas Augen lesen konnte, sprach er mit ihr Französisch oder erzählte er von den Abenteuern des Äneas, war groß. Er hätte nur noch größer sein können, wäre sein verschollener Vater, für dessen Heimkehr sich Theo zur Hauptsache mit soviel Wissen gewappnet hatte, endlich zurückgekehrt.
War seine Mutter schon ehrgeizig und fordernd und steckte ihn in seidene Hausmäntel, wie schwer würde es dann erst sein, dem Vater zu gefallen?
Um Theo zu beweisen, wie wenig die Bitte des Jesus-Engelchens, seinen Wegen zu folgen, als die Einladung eines Diebes mißverstanden werden durfte, hatte sich der Rabbiner unter Seufzern eine hübsch gebundene Sammlung von Bibelzitaten für Kinder besorgt und mit einem halbherzigen Hinweis darauf, daß die Bibel, anders als die Tora, die im Talmud auf lediglich zwölftausend Seiten präzisiert wurde, viel weniger erkläre als fordere, unter weiteren Seufzern daraus vorgelesen.
Auch wenn er das Thema des Ehemanns nicht mehr ansprach, so war immerhin klar, daß Lisa katholisch getauft worden war.
»Mein Kind«, hatte der Rabbiner Theo eines Tages vorgelesen, »gehorche der Zucht deines Vaters und verlasse nicht das Gebet deiner Mutter.«
Der Junge, der erstens begriff, er könne wohl keine Zucht besitzen, und zweitens anfing zu weinen, hatte sich daraufhin an die Brust des Rabbis geworfen, vielleicht, weil der gute Geist seines
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