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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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gewischt und mit einer fast fröhlichen Geste zu dem einzigen Fenster der Stummstraße Nummer 9 hinaufgegrüßt, hinter dem, wie er wußte, der Geist eines Gelehrten lauerte.
       »Na, Bengele«, rief Onkel Schaich, putzte sich die Brauen und leckte köstliches Eidotter von seinen Fingern, »ist das wieder so ein Experiment, ja?«
       Und dann hörte man die Stimme des Knaben dünn und ängstlich hinter den Vorhängen.
       »Nein, das war ein Hühnerei!«
      
       Der Junge verstand es also – kaum zu glauben war es –, die Herren der Moldavanka für sich zu gewinnen.
       Gerade das aber sollte die Mutter nicht erfahren. Statt dessen sagte Birnbaum:
       »Ich glaube nicht, daß die Schule ihm einen Fortschritt bringen wird. Es sei denn, man würde gleich mit dem Gymnasium beginnen.«
      
       Birnbaum nahm sich insgeheim vor, bei der Ausbildung des Jungen eine aktivere Rolle zu übernehmen. Er wollte das Feld nicht Dilettanten wie Ljutov, Salomoniak und Lukin überlassen. Der Rabbi wußte, wie wichtig es war, den Talenten eines Schülers Angriffspunkte zu bieten.
       Jemanden, der die Fidel spielen will, sollte man Musik lehren, dachte Birnbaum. Nur daß die Fidel des Jungen noch keine sehr deutliche Gestalt angenommen hatte. Plapperte er nicht gerade den Text eines Tragöden nach, löste ein mathematisches Problem oder absolvierte seine Sprachübungen, ließ man ihn also schlicht tun, was er wollte, so saß er entweder am Fenster und beobachtete oder bastelte an seiner Schuhkartonsiedlung herum.
       Lebte er nicht wie eingesperrt? Hat er nicht die Fensterbank besetzt wie ein Häftling, der aus der vergitterten Zelle in die Freiheit hinausstarrte? Der begrenzte Kosmos der Stummstraße mochte für einen gewöhnlichen Fünfjährigen ausreichen, aber für ihn?
       Zugleich mußte der Junge, der die eigenen Fähigkeiten zu ahnen begann, doch auch vor ihnen erschrecken. Deswegen hatte er verwinkelte Häuschen gebaut und deswegen verfolgte er neugierig die unsichtbaren Mäuse – er wollte sich versteckten! Er traute sich nicht!
       Warum, dachte der Rabbi, sollte er nicht lernen, daß die Welt noch viel größer ist, als er befürchtet. Man kann ihr nicht ausweichen. Die Herausforderungen sind nicht ausreichend für ihn . . . Er soll sehen, was man mit solchen Talenten, wie er sie besitzt, leisten kann.
       Die ganze Stadt war so entstanden. Überall, an jeder Straßenecke des Zentrums würde der Junge erkennen können, was etwa Architekten, die vielleicht einmal wie er mit Schuhkartons gespielt hatten, durch den Einsatz ihrer besonderen Gaben erreichen konnten.
       Der Rabbi entschied sich für ein gewagtes Unternehmen.
       Er beschloß, den Jungen aus der Moldavanka hinauszuführen.
       Theos Mutter, die Birnbaum, der älter war als ihr Vater, vertraute, sah in diesem Plan weniger Schwierigkeiten als Birnbaum selbst. Sie empfand große Dankbarkeit für den Ernst, mit dem sich der Rabbiner der Erziehung des Jungen widmete. Kein leiblicher Vater, davon war sie überzeugt, hätte mehr Zeit mit ihm verbringen können.
      
       
       Und so überschritten der Rabbiner und sein Schüler an einem sonnigen Frühlingsvormittag die alte Freihafenstraße auf Höhe der Chersoner Straße und verließen die kleine Stadt der Diebe, um einen noch verwirrenderen Teil der Welt anzusehen, in dem es Straßenlaternen und gepflasterte Fahrbahnen gab, blitzende Automobile und eine Vielzahl von geschmackvoll gekleideten Passanten, denen man eine ausgewogene und vor allem regelmäßige Ernährung ansah.
       Da er ahnte, wie anstrengend es sein müsse, den Jungen an der Hand zu führen oder sich ständig nach ihm umzusehen, und da er Theo, der keine langen Fußmärsche gewohnt war, schonen wollte, setzte Birnbaum ihn einfach zusammen mit einer Kiste voller Melonen in einen Handkarren und zog ihn hinter sich her. So konnte der Knabe sich auf das konzentrieren, was er am liebsten tat, beobachten, und lief bei dieser fesselnden Tätigkeit trotzdem nicht Gefahr, von einem der zahlreichen Verkehrsmittel, denen er in der Moldavanka selten begegnet war, überrannt zu werden.
       Theo fand seinen Spaß an dieser Art der Fortbewegung und hatte sich nur am Anfang ein wenig geniert, weil er ständig den sabbernden Schnauzen von Straßenhunden ausweichen mußte, die menschlicher Gesellschaft in ihrer Augenhöhe sehr aufgeschlossen gegenüberstanden.
       »Hör auf, die Hunde zu streicheln!« schalt ihn Birnbaum,

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