Trojaspiel
beseelte Lachen und welche beherzten Worte er finden würde.
Der Rabbi sah mit wachsendem Entsetzen auf den Kleinen, der sich in seinem Wagen aufgerichtet hatte und die drohende Faust über seinem Kopf beobachtete.
Dem Jungen darf nichts geschehen, dachte Birnbaum. Um keinen Preis. Er würde es nicht zulassen. Die Männer und ihre Fäuste rückten noch näher, als Birnbaum sich langsam erhob, denn er wollte nicht untergehen, nicht jetzt, er würde ihre Wut und ihre Gewalt ertragen, so wie ihren vom Alkohol gewürzten Atem, er würde es überleben. Und wieder lächelte er, und seine Angst, ohne daß es jetzt noch etwas helfen konnte, denn die Fäuste wirbelten bereits so nahe vor seinen Augen, daß er ihre Schläge glaubte spüren zu können, seine Angst war bereits müde geworden, sie war etwas, das nur noch seinen Körper anging, aber nicht mehr seine Seele.
»Loß mein Tadele, du varschtunkener alter Kaker!«
schimpfte mit heller Stimme plötzlich der Knabe und schüttelte seine zarte Faust gegen den vertrottelten Mann in den zu weiten Hosen, der noch immer im Mittelpunkt der aufgerückten Front stand.
Der Postbedienstete seiner Majestät wich ungläubig zurück. Jemand lachte, und ein anderer stimmte ein. Man durfte seinen Augen eben nicht trauen! Die Herrenblase sah den milchweißen Knaben, der grimmig seinen Unterkiefer vorgeschoben hatte, unschlüssig an. Wie konnten diese beiden Gestalten nur zusammengehören? Wie konnte solch ein Knabe ein Jude sein?
Die Beantwortung dieser Frage drängte jedoch nicht mehr, denn eine Klasse der Schwesternschule stelzte steif vorbei, sie kam vom alten städtischen Krankenhaus, wo man Menschenleben noch zu schätzen wußte. Und die Mädchen kicherten bald über die Männer, die ihnen nachstolperten und von ewiger Liebe sprachen.
Theo lernte viel in den nächsten Wochen und Monaten. Birnbaum zog ihn nicht mehr durch die Straßen, darauf hatte der Schüler bestanden. Theo ging zu Fuß, und er zählte die Schritte in jeder Straße, denn er hatte erfahren, daß die Stadt streng geometrisch aufgebaut worden war, selbst die Erdfalten, die das Tafelland Odessas durchschnitten und einst die natürlichen Grenzen der Stadtviertel gebildet hatten, schienen sich daran zu halten: die Senken, die das Anlegen von Treppen, Hangstraßen, Brücken und Hohlwegen notwendig gemacht hatten, verliefen fast winkelrecht zur Meeresküste.
Er lernte, daß die Oberstadt, die sich über das Hafenviertel erhob, aus zwei großflächigen, in einem Winkel von fünfundvierzig Grad einander zugeordneten Geländen mit netzförmigen Grundrissen bestand (ähnlich dem Muster, das der Architekt Nesturch auf seinem Rücken getragen hatte).
Er lernte, daß die längste Brücke der Stadt, von Gonsiorovski über die beiden Senken der griechischen Straße erbaut, hundertzehn Meter oder zweihundertdreiundsechzig seiner Schritte maß.
Er lernte, daß das Zentrum durch ein klar umrissenes System gerade verlaufender Straßen gekennzeichnet war, daß zentrale Straßen eine konstante Breite von zweiunddreißig Metern (oder siebenundsiebzig Schritten) zeigten und alle Magistralen der Stadt zum Meer hin ausgerichtet waren. Er lernte Akazien, Kastanien, Platanen und die lustigen Katalpen (die Odessiten nannten sie Spaghettibäume) zu unterscheiden, die alle großen Chausseen flankierten. Keine Straße war mit mehr als einer Baumsorte bepflanzt. In der Puschkinstraße etwa waren es Platanen, in der Katharinenstraße Katalpen, auf der Deribasstraße und der Griechischen Straße Akazien.
Mit der Zeit verstand Theo sechzehn verschiedene Sorten Akazien zu unterscheiden. Noch immer brachte er ihre duftenden Blüten nach Hause zu seiner Mutter, die stolz auf sein Wissen war und ihm nach wie vor die köstlichsten Pfannkuchen bereitete.
Der Knabe lernte die verschwenderische Architektur des Französischen Boulevards kennen, den er mit Birnbaum hinaufmarschierte bis nach Fontan, sah dort die Villen der Reichen und Mächtigen in fürstlicher Langeweile hinter Buchsbaumhecken dösen.
Und er lernte vor allem, daß die geordnete und übersichtliche Wirklichkeit der Stadt sich einem unterirdischen Irrgarten von Tunneln, Gängen und Galerien verdankte, welchen man, um den Muschelkalk, das wichtigste Baumaterial der Stadt, zu gewinnen, in den Grund getrieben hatte.
Der eigentliche Ursprung von Odessas glorreicher Zivilisation, so begriff er, lag
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