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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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war bereit. Und wenn es wegen seines gojischen Schülers war, daß er von Antisemiten erschlagen werden sollte, dann war der Allmechtige doch wenigstens ein größerer Schelm, als er gedacht hatte.
       Die Gruppe näherte sich vor- und zurückwankend, spöttisch zog man die Mützen vor Liebespaaren oder allzu modisch gekleideten jungen Herren, sofern sie nicht über witzige Komplimente lachen konnten, unbegleiteten Frauen rief man erfrischende Anzüglichkeiten nach.
       Es waren Mitläufer vom Rand der Gruppe, die mit den Fingern auf das Verbrechen zeigten. Ein paar linkische junge Burschen und ein vertrottelt aussehender älterer Mann in zu weiten Hosen. Die Wortführer nahmen das Thema an, und aus der Distanz begann ein Konzert der Verwünschungen.
       Birnbaum blieb einfach sitzen. Er spürte die drohende Gefahr wie einen Sturm, der heraufzog, der Fensterläden warnend schlagen ließ, der Unrat durch die Straßen wirbelte und den Himmel verdunkelte. So war es schon häufig gewesen. Während des Frühjahres bis in den Mai hinein lag diese Gewitterstimmung in der Luft, die Juden konnten sie spüren, manche schlossen sich zusammen, um verteidigungsbereit zu sein, aber niemand konnte anscheinend verhindern, daß es fast keinen Streik, keine Arbeiterproklamation, keine politische Demonstration gab, nach der es nicht zu Übergriffen gegen Juden kam, ermuntert und angestiftet oder nur halbherzig geahndet von der Polizei.
       Juden als Sündenböcke, als Prügelknaben, immer hatte es so funktioniert, denn die Zarenregierung war unantastbar. Die Blase, die jetzt Fäuste ballend auf ihn zudrängte, ereiferte sich mit Hilfe von Vorurteilen und alten Lügen. Birnbaum schmeckte die Gewalt, sie kündigte sich an in dem Aroma von Eisen, dem dickflüssigen Speichel in seiner Mundhöhle. Christusmörder! Kindermörder! Er sah das Bild mit ihren Augen. Da saß ein krummer alter Jude mit Bart und schwarzen Augen mitten auf dem Kathedralenplatz. Er hatte sich einen Jungen gefangen, dessen Augen nicht blauer, dessen Haut nicht weißer und dessen Haare nicht blonder hätten sein können, und zog ihn wie einen gefangenen Zirkusaffen hinter sich her. Zu Hause in seinem Keller würde der Jude das Blut des Knaben trinken. Auch wenn das Pessachfest längst vorbei war. Denn die Juden, neben all den Verbrechen, die sie gewohnheitsmäßig in Ausübung ihrer Religion begingen, waren doch hauptsächlich Vampire. Noch immer gab es deswegen Familien, die zum Seder und anläßlich der übrigen Feiertage keinen Rotwein tranken.
       Mir egal, dachte Birnbaum. Sollen sie mich endlich auch haben. Ich will nicht unbedingt hierbleiben . . . Ich habe es nicht unbedingt verdient.
       Die Blase rollte auf den Alten zu, bis ihr Schatten auf ihn und den Knaben fiel. Ein gutes Dutzend Männer hatte sie umringt. Sie zischten und murmelten, und jemand spuckte in des Rabbis Richtung. Birnbaum schloß die Augen. Und erst in diesem Augenblick, als er sich endlich fallen lassen wollte, dachte er daran, daß es hier auch um den Jungen ging, um das Wohl des Knaben, der nicht Zeuge einer sinnlosen Gewalttat werden durfte oder schlimmer noch: Opfer ihrer unabsehbaren Folgen. Nicht solange Birnbaum das verhindern konnte.
       Was war er denn eigentlich für ein Lehrer, der sich so vor seinem Schüler gehenlassen konnte? Also öffnete der Rabbi die Augen wieder und ließ seine Gegner sehen, wieviel Angst er hatte. Der vertrottelte ältere Mann, in dessen flackernder, unsicherer Miene eine ganze Karriere an Demütigungen abzulesen war, für die er sich ohne Zweifel heute ein wenig entschädigen wollte, rückte vor und hob drohend eine zitternde Faust. Birnbaum lächelte nervös. Ein Lachen konnte hilfreich sein, es müßte einem Menschen zeigen, daß er seinesgleichen gegenüberstand. Birnbaum war doch selbst nur ein freundlicher, wenn auch sorgengeplagter alter Mann, der zusammen mit seinem bildungshungrigen Schüler eine Pause eingelegt hatte. Die Worte, die sein Gegenüber mit der zitternden Faust – Birnbaum stellte sich vor, wie dieser Tropf in seinen schlottrigen Hosen einsam in der Ecke eines dunklen Raumes saß und Briefe sortierte – fauchte und schnaubte, als wäre ihm die Galle übergekocht und der Dreck und Schmerz seines Lebens endlich bereit, der Welt ins Gesicht gespuckt zu werden, dieser eintönige dem Rabbi so wohlbekannte Gesang, er zeugte jedoch nicht von Verständnisbereitschaft. Es war ganz gleichgültig, fühlte Birnbaum, welches

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