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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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rastloses Herz schlug, verneigte sich kurz und rollte dann gewaltig wie eine Lawine auf die Baustelle zu, wo er eisenbiegende Baschkiren noch in ihren wildesten Flüchen übertraf.
       Dies war des Knaben erste Begegnung mit einem Architekten. Der Rabbiner wies ihr weitaus weniger Bedeutung zu als einer dramatischen Begebenheit im Park der Christi-Verklärungs-Kirche, die Lehrer und Schüler wenige Wochen später erleben mußten. Theo, der von F. Nesturch, dem redseligen Erbauer eines Gebäudes, in dem das Gedächtnis der Stadt aufbewahrt werden sollte, ganz hingerissen war, erwähnte jenes Erlebnis im Park jedoch lediglich in seinen Aufzeichnungen, wie er notierte, weil er sich selbst daran erinnern wollte, daß er Birnbaum, wenigstens ein einziges Mal, nicht enttäuschen mußte.
      
      
       Es war am frühen Abend, die Kuppeln der Verklärungs-Kirche schimmerten friedlich, und Birnbaum, dem für klerikale Feinheiten der Rücken zu weh tat, saß auf einer Bank am christlichen Kirchenplatz und betrachtete zufrieden den Jungen, der sich in seinem Wagen zurückgelehnt hatte und am Rest eines Apfels nagte.
       »Oi«, stöhnte der Rabbi, »entweder ist dein Gewicht schon gar zu stattlich, oder mein Rücken ist eine Plage.«
       Theo nickte gedankenverloren, er forschte: Liebespaare drehten wie Eisläufer turtelnd ihre Kreise auf dem begrünten Platz, die Glocke eines Melonenverkäufers foppte die Hunde der Nachbarschaft, und formalinberauschte Präparatoren aus dem nahe gelegenen anatomischen Institut wankten in die umliegenden Kneipen. Hübsch verpackte Mädchen und Jungen waren mit ihren Eltern auf dem Weg zum sibirischen Zirkus oder der neu eröffneten Rollschuhbahn. Sie deuteten auf den blonden Knaben in der Karre. Die Eltern warfen dem bärtigen Mann in Schwarz mißtrauische Blicke zu und zerrten die Kinder weiter. Eine Gruppe von Fuhrleuten des Postamtes in der Sadovaiastraße feierte das Ende eines harten Arbeitstages und verbrüderte sich dabei mit ein paar grimmigen Schalterkräften desselben Hauses, die nicht weniger fleißig gewesen waren und ebensoviel Durst besaßen. Ein paar Dockarbeiter hatten ihren Tageslohn in Branntwein angelegt und schlossen sich der fidelen Herrenblase an. Die allgemeine Stimmung war vorzüglich, nachdem man vorhandene Vorräte im Schatten einer Kastanie brüderlich aufgeteilt und festgestellt hatte, daß in ihrer Begeisterung für den Wodka die Russen aller Schichten ein einiges Volk seien, unterhielt man sich über den Getreidepreis, die bevorstehende Proklamation des Zaren und ein nicht lizenziertes Bordell am neuen Bazar.
       Es wäre ungerecht zu behaupten, es hätte Birnbaum an Sensibilität gefehlt, die drohende Gefahr zu erkennen. Im Gegenteil, seitdem er sein zerstörtes Heimatdorf verlassen hatte, war das Schreckgespenst des eigenen gewaltsamen Todes sein ständiger Begleiter gewesen. Dafür schämte er sich sogar am meisten. Denn seine Furcht kam ihm oft größer vor als der Schmerz. In den schon erwähnten Träumen, die seinen Schlaf regelmäßig heimsuchten, ihn schreiend in zerwühlten und schweißklammen Laken aufwachen ließen, waren die Bilder des Verlustes – dessen Augenzeuge er Gott sei Dank nicht geworden war – nicht so bedrohlich wie die Gesichter der Männer, die sich lachend von den geplünderten und gebrandschatzten Häusern abwandten und grölend die Hauptstraße hinunterzogen, vorbei an den irrtümlich erschossenen Kutschpferden eines deutschen Weinbauern, hinter denen er im Staub lag und sich versteckte. Birnbaum besaß seit gewissen Ereignissen eine Antenne für Gefahren, die ihm aufgrund seiner Religion drohten.
       Auch jetzt betrachtete er die Herrenblase, blutrot waberte sie inzwischen am Rande des Platzes entlang, mit einer stillen Beklemmung.
       Er kannte den seltsamen, betäubenden Mechanismus, der zu wirken begonnen hatte, aus vielen Beobachtungen und aus eigener Erfahrung. Menschen etwa, die in vernichtendes Feuer starrten, auch er hatte das getan, als er damals zurück zu seinem Haus gelaufen war, überwältigt und versteinert, die ungeachtet der Gefahr für das eigene Leben nicht ausweichen wollten. Manche von ihnen hatten den Anblick des Infernos nicht mehr ertragen können und sich von Sinnen in das Flammengrab geworfen, zu den Ihrigen.
       Er hatte das nicht getan. Auch jetzt wollte er sich dem Tod nicht freiwillig in die Arme werfen. Aber er würde nicht mehr ausweichen.
       Sollte ihn der Brand doch vernichten, er

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