Trojaspiel
dem Menschenknäuel und den Bergen Schlafender nicht ausweichen, zögert jedoch bei dem Gedanken an das schützende Dunkel unter der Stadt, sehnt sich nach der erfrischenden, klammkalten Ablenkung und steigt zurück in die Unterwelt, die für ihn jetzt kein Geisterreich und keine Hölle mehr ist und niemals mehr sein wird.
Nur hundert Meter oder zweihundertvierzig Schritte weiter südlich, dann ein Abstieg mit zwanzig Grad Gefälle, am Ende ein Wasserloch, an dem das Schaf erneut zum Fisch wird. Auftauchen, ein schmaler Versorgungstunnel, dann ein Winkel, der sich wieder auf ein paar Lichtstrahlen hin öffnet. Es muß der Keller des grünen, achtfenstrigen Hauses in der Dalniskaja sein, der Kaufmann Leviat führt hier sein Geschäft. Die üblichen Stellagen, aber das Brett an Drähten schwingt leer. Von oberhalb der Luke riecht es nach Grill. Dort betet, neben den bereits zum Schlafen hingestreckten Angehörigen, ein Mann im Krämerkittel, aus dessen Seiten es rot rinnt, während Reste der zahlreichen Familie, Töchter und Tanten, zum Schlafen gebracht werden, daß es zum Himmel schreit. Theos geballte Faust öffnet sich, ihm ist nicht nach Schreien, die Stimme hat es ihm verschlagen. Er reißt Stellagen um, läßt Glas, Metall und Holz auf Stein knallen, hat leider keine anderen Waffen. Und als es von oberhalb der Luke zurückknallt, die Luke erst perforiert, dann hochreißt, weil man zwischen den geplünderten Lebensmitteln nichts Lebendiges vergessen will, ist Theo schon entwischt durch den schmalen Versorgungstunnel, entsorgt sich selbst, wohin ihm niemand folgen kann und will. Die Augen an Lichtmangel gewöhnt, mit den Händen am breiter werdenden Gang sich ausrichtend, geht es dann voran und in die Tiefe. Wieder durch Wasser, dann in die Höhe, das Rechenwerk surrt, schafft Platz und beruhigt. Erst einmal südlich, er muß sich vom Ziel entfernen, nimmt es nicht schwer, solange er nur in Bewegung bleibt. An einer unterirdischen Kreuzung, wo es keinen Verkehr, nur die Qual einer Wahl gibt, dreht er sich nach Westen, obwohl es dort in Richtung Meer und aus der Moldavanka hinausgeht. Theo wendet dreihundert Meter weiter, beschließt, Birnbaum und Lisa in die Unterwelt einzuführen und damit zu retten, ahnt, daß die Zeit knapp wird, und kehrt um, wendet wieder, hat sich zu keiner Zeit verirrt. Er taucht erneut wie ein Fisch, der ja nichts anderes kann. Er stellt fest, daß ihm ein Begriff für die Zeit fehlt und unterirdische Wege, obwohl verkehrsarm, nicht übersichtlich sind, nach nah und fern und wieder zurückstreben, das gleiche in anderer Himmelsrichtung wiederholen, bis der erste Weg, der wie jeder Weg im kürzesten Fall eine Gerade gewesen wäre, fortgesetzt wird, und erreicht wieder einen Kreuzweg, dessen Mittelpunkt einladend wirkt. Er streckt sich dort in seinem Schafspelz aus und schläft, schläft, schläft.
Nicht weniger als vier Tage vergehen, bis der Junge, man schreibt den 22. Oktober 1905, nach weiteren Zurückweisungen von massiven Balken, verschlossenen Luken, scharfkantigen Schuttbergen, beißendem Qualm oder schlichtem Horror endlich in einen Gang gerät, der, Theo muß nachrechnen, ehe er es glauben will, in die Stummstraße führt, auf Höhe ihrer Nummer 28. An das Gebäude erinnert er sich. Es war aus unbestimmten Gründen immer gepflegt, aber immer verschlossen gewesen. Warum nur hatte Birnbaum, wenn es an der 28 vorbeiging, den Schritt beschleunigt, seinen Schüler eilig fortgezogen, als gelte es, eine wichtige Verabredung nicht zu versäumen? Schon zwei Häuser weiter war es in einem Theos kurzen Beinen gemäßeren Trab weitergegangen, und kein anderes Gebäude danach hatte den Rabbi erneut an die Dringlichkeit eines Termins erinnert.
Hinter einer Holztür, die einen geräumigen, fast schon wohnlichen Gang durchschneidet, ein großes Schloß hat, aber nicht versperrt ist, nimmt Theo einen Geruch wahr, wie es ihn in Kellern von Häusern gibt, die nicht in Flammen stehen oder von Schlafenden und Alpträumen bewohnt werden. Er kommt in einen Tunnel, der mit Holz ausgekleidet und von geräumten Regalen gesäumt ist. Am Boden sind leere Kisten gestapelt, deren Aufschrift das Kaliber von Gewehrmunition nennt.
Theo will schon wieder umkehren, aber dies ist die Stummstraße, und von der Decke im dunklen Winkel des Tunnelabteils hängt wie zum Trost ein großer, noch nicht angeschnittener Schinken, der sicherlich saftig ist und Theo daran erinnert, schon seit Tagen
Weitere Kostenlose Bücher