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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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sich selbst als den übrigen Anwesenden. »Solche Zähne hat er gehabt!« Theo, die Arme seitwärts streckend, übertrieb maßlos. »Und ganz bestimmt hätte er mich gefressen!«
       Der Plan, mit dessen Hilfe Theo seinem Entführer entkommen wollte, soviel steht fest, wäre ohne Birnbaums Sieg über den Nachtschreck nie zur Ausführung gekommen.
       Mit sich und der Dunkelheit ganz allein, hatte der Junge zunächst die Kalksteinwände begrüßt. Ihm war klar, daß einer längeren Bekanntschaft mit dem geräumigen Keller, in dem er gefangen war, ein höflicher Anfang, ein Beweis guten Willens, nicht schaden konnte. Er legte seine Wange an den Muschelkalk und spürte die Feuchtigkeit, die dort gespeichert war. Er streichelte, kratzte und bohrte mit den Fingern, bis er – nicht einmal erstaunt – feststellte, daß rechts und links eine Wand war, dort oben eine Decke und zu seinen Füßen ein Boden – weiter nichts. Kein Unhold, kein schwarzer Mann mit langen Zähnen, niemand, dessen hungriger Magen durch das Verfüttern von kleinen Jungen zum Schweigen gebracht werden mußte.
       Dieselbe Methode hatte Birnbaum damals angewandt. Er hatte sich mit ihm unter das Bett gebeugt, Schränke und Schubladen geöffnet, an der verschlossenen Wohnungstür gerüttelt und selbst Lisas zierliches Nähkästchen inspiziert. »Was willst du machen, Jingele, da ist niemand«, sagte er bloß. »Da ist bestimmt nichts«, wiederholte der Rabbi, weil er glaubte, es könne nichts schaden. Und da er noch immer Nachwirkungen des Pavor nocturnus in Theos bläßlichem Gesicht zu sehen glaubte, setzte er hinzu, »Da kann ja auch gar nichts sein.« Und um Theo mit diesem neuen Gedanken vertraut zu machen, rüttelte er erneut die Tür, prüfte die Fensterläden, deutete eine wiederholte Untersuchung der Schränke und Schubläden an und verbeugte sich kurz vor dem Bett. » Kann nichts sein, verstehst du?« Theo schüttelte den Kopf. »Na, Jingele, wie soll ein so großer Mann unbemerkt durch eine verschlossene Tür oder ein Fenster herein- oder wieder herauskommen? Wo könnte der sich verstecken und wie, frage ich dich? In einer Schublade? Dort im Kleiderschrank? Nein, das geht nicht, sage ich dir! Denn diese Tür und dieses Fenster sind verschlossen. Dort drüben finden sich eure Kleider und hier die Wäsche – nicht wahr, Lisa? Nein, nichts zu machen, Jingele, da ist nichts, und, was noch besser ist, da kann nichts sein, weil es nicht möglich ist!«
       Noch nie hatte sich der Rabbi so inbrünstig gewünscht, alle Metaphysik aus dem Kopf eines Schülers zu exorzieren. Fast war er dankbar, daß Theo selbst ihn, trotzig die Arme verschränkend, vor weiterem Frevel bewahrte. »Und wenn doch?«
       »Wenn doch?« wiederholte der Rabbi nachdenklich. »Tja, dann kann alles sein, und das ist sogar noch besser, Jingele«, erwiderte er und setzte sich jetzt nahezu vergnügt zurück in den Lehnstuhl. Lisa hatte sich längst wieder schlafen gelegt, und auch Birnbaum fühlte sich auf einmal gelassen genug, heute und vielleicht auch in Zukunft besser schlafen zu können. »Verstehst du, Theo, wenn es Geister gibt, die durch Wände und Türen wandern, wie sie möchten, die sich, wenn sie dir einen Schrecken eingejagt haben, zwischen deine Socken legen und einschlafen oder durch die Decke in das nächste Stockwerk fahren, um einen alten Mann zu unterhalten – dann ist alles möglich, du mußt dir also überhaupt keine Sorgen mehr machen: Lach die Geister aus, flieg mit ihnen um die Wette, sperr sie in eine Glasflasche ein und schneide ihnen Fratzen. Werde selbst zum Geist für die Geister, denn wenn die Naturgesetze nicht mehr gelten, dann ist alles möglich. Alles, alles, alles!«
       Dafür hatte sich Theo entschieden, als er merkte, wie wenig es half, sich den dunklen, endlosen Keller nur als Keller vorzustellen und den Schrecken und die Ungewißheit, die in jeder Dunkelheit warteten, dabei ganz außer acht zu lassen. Er hatte sich dafür entschieden, daß die Naturgesetze nicht mehr gelten sollten. Hier unter der Stadt stand er, blind wie ein Maulwurf, abhängig von Wegweisern, die er sich selbst aufstellen wollte, indem er das Muster übertrug, das er zählend und schrittweise ausmessend auf hellichten Straßen gewonnen hatte. Er würde es jetzt dem Tunnel aufmessen, hier etwas abziehen und dort etwas hinzuzählen, im Maßstab bleibend, bis er nahe der Stummstraße einen Ausgang fände. Fliegen wollte er durch die Gänge oder immer rund und

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