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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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lebendig aussehende Hand aufnahm und sie in einer sinnlosen Geste gegen den Stumpf drückte, aus dem mit jedem Herzschlag sein Leben entwich: Konnten Ärzte das, waren sie so gut mit Nadel und Faden, wie er selbst – er könnte riskieren, es zu versuchen, aber bei klarem Verstand müßte er sein, um das zu tun, das Lebendige mit dem Leblosen verknüpfen, um es wieder zu beleben, nein, das war ja ausgeschlossen, schon nach wenigen Minuten, vielleicht schon im nächsten Augenblick würde es mit ihm zu Ende gehen. Er griff in den blutspuckenden Stumpf, um die Arterie zu finden und zuzupressen, aber der Schock, seine Benommenheit, die Schwäche – es gelang ihm nicht, in dem Gewebebrei etwas zusammenzudrücken, das die Blutung stillte. Er rief um Hilfe, aber in den Kulissen der Schenke, die zusehends undeutlicher wurden, reagierte niemand auf seine panischen Schreie. Er hörte nur ein Murmeln in dem Moment, als sich der Korridor auftat, der zurück in die Küche führte und an dessen Ende das kleine Mädchen stand, das ihn mit großen Augen anstarrte. Das Murmeln, stellte sich heraus, war das Brodeln des Topfes auf dem Herd. Als er ihn mit letzter Kraft erreichte und von der Flamme riß, wurde ihm mit einem Male klar, daß es besser war, nach Colicia zurückzukehren, besser sogar, dort als Schweinehirt zu arbeiten, selbst etwa sich wie das Vieh im Schlamm zu suhlen, als tot zu sein. Und bevor sich (es war längst wieder Morgen) endlich für lange Zeit die Nacht über diesen nicht enden wollenden Tag senkte und er ein weiteres Mal stürzte, spürte er den scharfen Schmerz, hörte das Zischen und roch das eigene verbrannte Fleisch, für eine Sekunde, bis die Ohnmacht ihn zu Boden und den Stumpf seines rechten Armes aus der Flamme zog.
       »Dem Handwerk ging er nicht verloren, tatsächlich war es das Handwerk, was ihn noch etwa sechs Monate lang am Leben erhielt. In einer besonderen Spielart. Es heißt, daß es ihm gelungen sei, die abgetrennte Hand zu konservieren. Vermutlich hat er zu diesem Zweck auch mit Leichenteilen experimentiert. Er las Bücher des Anatomen Ruysch und machte nach dem Vorbild von Fragonard Wachsinjektionen in die Gefäße abgetrennter Extremitäten von anonymen Kadavern, die er sich aus dunklen Quellen zu beschaffen wußte. Onkel Giorgio muß all diese Verfahren eingedenk der hohen Ansprüche, die man an seine Kunst richtete, noch verbessert haben. Das Endprodukt, es ist leider verschollen, soll wieder so lebendig ausgesehen haben, daß man, sobald man die Zigarrenkiste, in der es aus Anstandsgründen aufbewahrt wurde, öffnete, fast erwartete (ha ha ha), daß einem zur Begrüßung die Hand geschüttelt werde. Das geschah natürlich nicht, aber ich hörte, es soll ein sinnlicher Genuß gewesen sein, dieses Andenken zu berühren.«
       Wie ein effektsicherer Märchenerzähler packte Signor Bianchi jetzt seine rechte Hand unterhalb ihres Gelenkes, ließ die Finger hin und her zucken und tat so, als würde seine ledrige Klaue gewaltsam daran gehindert werden müssen, über den Schreibtisch zu seinen Zuhörern zu fliegen, um dort Ohrfeigen zu verteilen oder an Nasen und Ohren zu ziehen.
       »Onkel Giorgio wollte also nicht aufgeben. Aber die Firma interessierte ihn nicht mehr. Seine Entwicklung als Künstler ging, wenn Sie so wollen, in eine neue, mehr experimentelle Richtung. Wenn Sie aber meinem verstorbenen Vater Glauben schenken möchten, so war er schlicht wahnsinnig geworden. Manche Fakten sprechen dafür.
       Etwa drei Monate nach dem Verlust seiner Hand wurde er von einem Carabiniere, ein Nachtwächter hatte ihn alarmiert, auf dem Campo Verano verhaftet. Nachts sicherlich kein sehr angenehmer Ort, es sei denn für einen Leichenfledderer. Aber wie hätte ein Einarmiger, frage ich Sie, ein Grab öffnen oder meinetwegen eine Einsegnungshalle aufbrechen sollen? Was wollte er also auf dem Friedhof? Eine weitere Woche später fand man ihn in einer Lohgrube seiner Gerberei neben der Werkstatt, über seinen geliebten Häuten hatte er sich in der Lohbrühe ertränkt, aber sein Bruder, mein Vater, der ihn in der übelriechenden Beize fand, wurde dadurch nicht vernünftiger.
       Immer wenn ich übrigens darüber nachdenke, wie es damals zu dieser Katastrophe kommen konnte, ich spreche von dem Verlust der Hand, ist das Ergebnis dasselbe. Der russische Knabe war es, mit dem unser Unglück begann. Hätte man ihm dafür nicht den Hals umdrehen sollen? Leider war ich zu jung. Vielleicht hätte ich

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