Trolljagd
es überhaupt jemandem aufgefallen ist, dass wir nicht mehr da sind.«
22. Kapitel
Jonas’ Privaträume waren bei weitem nicht so modern wie der Rest des Hightech-Gebäudes, in dem er seinen Stützpunkt hatte. Es gab ein schmales Doppelbett, einen Schreibtisch und zwei Stühle. Das einzige Licht im Raum stammte von zwei Kerzen, die in Wandleuchtern brannten. Im ganzen Raum gab es nicht einen Funken elektrischen Stroms, was vermutlich etliche Leute merkwürdig gefunden hätten, wenn man sich den technologisch so hochentwickelten restlichen Gebäudekomplex ansah. Aber Stromkabel neigten dazu, den Energiestrom der Spindel zu unterbrechen, wenn Jonas das uralte Gerät zu Rate ziehen musste.
Der Meduse saß mit verschränkten Armen und Beinen mitten im Zimmer. Er starrte an die Wand, ohne mit der Wimper zu zucken, aber er nahm nichts in dem Raum wahr außer den Zeitfäden der Spindel, die ein paar Zentimeter vor ihm auf dem Boden lag.
Schon seit Stunden durchsuchte Jonas mit seinem Unterbewusstsein einen Zeitfaden nach dem anderen von oben bis unten, durchforstete Gegenwart und Vergangenheit, um eine Lösung für das Problem zu finden, das die Welt der Menschen gleichermaßen wie die Welt der Übernatürlichen bedrohte. Das Geheimnis des Nimrods war schwer zu fassen, aber jetzt, wo so unendlich viel auf dem Spiel stand, konnte man es sich nicht mehr erlauben, seine Existenz zu leugnen.
Zwischen Jonas und der Spindel lag ein blutverschmiertes Trümmerteil auf dem Boden, das aus den Überresten des Allerheiligsten geborgen worden war. Er benutzte es als Fixpunkt für seine Augen. Leben und Tod der Ermordeten strömten rückwärts durch seinen Geist, während die Schreie der Sterbenden in seinen Gehirnzellen kratzten wie Nägel auf einer Wandtafel. Exakt jenen Zeitstrang zu entschlüsseln, der die Ereignisse der Siebentägigen Belagerung umfasste, bei denen er selber nicht anwesend war, erwies sich als so schwierig, wie die richtige Einstellung des Zauberwürfels zu finden. Jonas verwendete sehr viel Zeit dafür, sich den Ereignissen aus verschiedenen Richtungen anzunähern, und gerade als er drauf und dran war, die Hoffnung aufzugeben, entdeckte er den Silberstreif einer Hoffnung am Horizont.
Die Zeitstränge, die er entdeckte hatte, waren dunkler und viel schwieriger zu durchkämmen als die anderen, aber Jonas war ebenso ausdauernd wie geduldig. Der Zeitfaden zeigte ihm Titus, der umgeben von den schockierten Rittern vor dem Körper des gefallenen Bischofs stand. Er konzentrierte sich noch stärker und folgte dem Zeitstrang tiefer in die Vergangenheit, bis er sich selbst sah, als der Handel zwischen ihm und Titus besiegelt wurde. Wäre er wahrhaftig Herr über die Zeit, hätte er die Vergangenheit gern ungeschehen gemacht, doch das stand außerhalb seiner Möglichkeiten. Nun richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Bischof und ging noch weiter zurück.
Das Bild des Zeitfadens wurde unscharf, und als es sich wieder aufklärte, fürchtete er schon, er hätte eine falsche Abzweigung genommen. Denn jetzt sah er plötzlich Dutch, den König der Hexenmeister, in einer riesigen Krypta.
In der Krypta befanden sich zwölf ornamentverzierte Sarkophage, die mit dem gleichen Zeichen versiegelt waren, das der Bischof auf seinem Brustharnisch trug. Im Zentrum des Raums stand ein Gespenst, während zwölf gebundene Seelen auf einem Pentagramm knieten, das auf den Steinboden gemalt war. Dutch bewegte sich durch die Mitte des Raums, sang dabei Litaneien und zeichnete mit Blut Symbole auf die Sarkophage.
Jonas konnte die Gesichter derer erkennen, die in den Sarkophagen lagen. Irgendwie kamen sie ihm vertraut vor. Plötzlich öffneten sich zwölf Augenpaare, und im selben Moment wurde Jonas klar, dass sich der Orden furchtbar geirrt hatte, was die Pläne von Titus und dem Bischof anging.
Als Jonas aus seiner Trance erwachte, brauchte er einen Moment, um zu sich zu kommen. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, aber er zwang sich dazu, aufzustehen. Er wusste, dass er sich ein wenig Ruhe gönnen sollte, um sich von den Strapazen des Rituals zu erholen, aber dafür war jetzt keine Zeit.
»Zwölf Gefäße für zwölf Seelen«, murmelte er, während er zur Tür wankte. Als er die Tür zu seiner Kammer aufstieß, lief er Jackson buchstäblich in die Arme. Auf dem Gesicht des Kriegers, der für gewöhnlich gelassen und überlegen wirkte, lag eine höchst beunruhigter Ausdruck.
»Es gibt ein Problem. Gabriel …«,
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