Tropfen im Ozean
Gespräche, die Meditationen, das Singen... all das schuf eine andere Geisteshaltung, gab mir einen höheren Blickwinkel, andere Gedanken und damit einen anderen Ausdruck meiner selbst. Dass es auch äußerlich so war, merkte ich an meinem Gesicht, das gleichmäßigere, weiche Züge annahm, und daran, dass mir selbst die kürzlich gekauften Jogginghosen zu weit wurden. Ich hatte enorm abgenommen in diesen Wochen. Ermutigt machte ich noch mehr Sport, aß noch weniger, ich hatte einfach keinen großen Hunger, und wenn, dann auf Salat, Obst und Gemüse.
Doch dann begann ich zu träumen. Von dunklen Schatten, die sich auf mich zu bewegten, etwas Schwarzem, das mich angriff. Ich träumte von etwas, das mich verfolgte, während ich lief und lief, mit Beinen aus Blei, die ich nicht hochbrachte, fühlte entsetzliches Grauen, weil ich nicht vorwärts kam. Der Verfolger holte auf, kam näher ...und näher und noch näher... ich schrie und wachte auf. Kalter Schweiß überall.
Und dann fiel mir ein, dass ich als Kind oft so geträumt hatte. Diese tonnenschweren, nutzlosen Beine, das Gefühl, keine Chance zu haben, es war etwas Altes, was da unten lauerte.
„Ich verstehe das nicht“, sagte ich zu ihm. „Es ist alles so schön... woher kommen diese Träume?“
„Ja“, sagte er bedächtig. „Wenn Licht im Spiel ist, beleuchtet das alles. Dann siehst du das Dunkle. Dann musst du es anschauen. Das braucht Mut. Was ist Dunkelheit? Nur das Fehlen von Licht. Mach dir das bewusst“.
„Das verstehe ich nicht“, klagte ich.
„Dort, wo du Licht hinbringst, ist es nicht mehr dunkel“, wiederholte er kryptisch.
„Aber was heißt das?“
„Mach einfach weiter. Du wirst schon sehen“.
***
I n der siebten Woche holte mich die Realität ein:
Ich hörte Schritte auf der Treppe und Menschen auf die stumme Klingel drücken. Hörte sie an die Tür pochen und Zettel an die Tür klemmen. Elisha kam als erstes. Und immer wieder. Ihre sorgenvolle Stimme drang leise durch die Tür. Und Rob kam. Auch immer wieder. Sogar Gerda und Bernd und Susann. Sie klopften, sie riefen meinen Namen. Wie erstarrt stand ich in der Wohnung und tat keinen Mucks. Ich hörte, wie sie weitere Notizen ablegten, versuchten, sie durch den Türschlitz zu schieben, versuchten, in mein Vakuum einzudringen.
Alle ließ ich liegen, schob sie lediglich zur Seite, tat so, als gäbe es sie nicht. Eine weitere Woche verging.
Und dann kam J. Er klopfte nicht, er hämmerte. Er rief nicht meinen Namen, er schrie. Er drang einfach überall durch, als ob er mir klar machen wolle, dass ich ihm nicht entkommen würde.
„Hey!“ brüllte er. „Mach verdammt noch mal die Tür auf, sonst lass ich sie von der Feuerwehr aufbrechen! Oder von der Polizei! Ist mir shitegal! Ich weiß, dass du da drin bist!“ Er hörte sich komisch an – war da Angst in seiner Stimme?
Ein empörter Nachbar krakeelte ihn an. Sachte nahm ich das Haustelefon ab und lauschte, die Hand auf die Sprechmuschel gedrückt, damit man mein Atmen nicht hörte.
„Ja, Mann, tut mir echt leid!“ hörte ich J sagen und ich sah förmlich, wie er mit seiner Hand durch den dichten Blondschopf fuhr. „Aber ich mach mir einfach Sorgen, verstehen Sie? Sie ist seit Wochen nicht aufgetaucht... ich meine... wenn sie da drin liegt...“
„Also, nach Wochen müsste das ganz schön stinken“, erwiderte der Nachbar trocken. „Außerdem hab ich sie gestern gesehen, verwesen tut sie schon mal nicht.“
J schwieg. Dann fragte er: „Hätten Sie Zettel und Stift für mich?“
Und die nächste Notiz landete in meiner Zuflucht, der nächste scharfe Schnabel, der an meine Eihülle pickte. Panisch sah ich die Risse.
Doch dass die Auszeit keine Dauerlösung war, hatte ich gewusst. Ich musste mir nun klarwerden, was ich tun wollte. Und das würde nicht allein von mir abhängen. Vielleicht hatte J ja schon längst Ersatz für mich eingestellt? Aber hätte er sich dann gemeldet?
Ich beschloss, mit WOM zu sprechen, bevor ich diese Zettel las. Schlief kaum in der Nacht, konnte es kaum erwarten, bei ihm zu sein. War unruhig, und verdrießlich wurde mir bewusst, dass all die alten Gefühle noch da waren.
Die Meditation war keine an diesem Morgen. Ich war gefangen in meinen Gedanken und ließ mich von ihnen entführen. Missmutig registrierte ich das und fragte mich, wie ich denn im normalen Leben überhaupt zurechtkommen wollte. Genau diese Frage stellte ich WOM, der mir in seiner heiteren
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