Tropfen im Ozean
Hoch/Spätsommer, der Himmel bekam dieses unbeschreiblich tiefe Blau, der Wind wehte leicht und die Sonne schien nicht mehr so heiß. Alles roch schon nach Abschied vom Sommer und beide hielten wir unsere Gesichter der Wärme entgegen, als ob wir sie speichern könnten.
„...und deine Eltern?“
„Hab ich lange nicht gesehen. Und sie haben sich noch immer nicht gemeldet. Fast ein dreiviertel Jahr nicht“. Meine Stimme klang bitter. Das war der dunkle Punkt in meinem Leben, einer, der mich mühelos in eine freudlose Stimmung versetzte.
„Es hat alles seinen Sinn, mein Mädchen“, sagte er. „Alles. Ich habe dir ja schon gesagt, dass das dein direkter Weg zu Gott ist“.
„Indem ich auf ihre Liebe verzichte?“
„Auf Liebe verzichten wäre nie gut. Schau, sie können nicht anders. Aber du kannst. Und du hast doch ganz andere Erfahrungen gemacht, warum wertschätzt du das nicht? Warum schöpfst du da nicht aus dem Vollen, statt dich dem Mangel zu widmen? Mag sein, dass deine Eltern dir nicht das geben, was du dir wünschst. Aber das ist doch genau der Fingerzeig nach innen. Täten sie das nicht, würdest du nie so tief graben. Hier und jetzt hast du die Wahl zwischen einem ständigen Verlustgefühl oder einer tiefen Liebe zu dir und damit zu allem“.
Ich schwieg, immer noch verbittert. Er stellte immer so hohe Ansprüche an mich. Ich wusste nicht, ob ich diese jemals würde erfüllen können, obschon ich spürte, dass er Recht hatte. Meine Eltern würden mir nicht geben, was ich mir wünschte, aus welchem Grund auch immer. Ich würde ewig warten. Und das wollte ich auch nicht. Ich seufzte.
„Ich fürchte, ich werde das Verlustgefühl trotzdem haben“, sagte ich leise. „Auch, wenn ich bewusst versuche, darauf zu verzichten“.
„Das glaube ich nicht“, sagte WOM im Brustton der Überzeugung. „Und sich zwingen, zu verzichten, ist nicht die Lösung. Schau, du meditierst jetzt gerade mal ein halbes Jahr... da reißt man noch keine Bäume ein. Es wird der Tag kommen, an dem du spürst, wie leicht das ist... da kommt das ganz von allein“.
„Und was tu ich mit diesen Gefühlen, solange es noch nicht soweit ist?“ fragte ich.
„Du nimmst sie als Kriegsschauplatz – das sind deine Sparringspartner. Beobachte sie. Gib sie vor dir zu. Tu nicht so, als ob es anders wäre, dann verwickelst du dich nicht so darin. Und glaub bloß nicht, dass das heißt, immer lieb zu lächeln und dir alles gefallen zu lassen – im Gegenteil. Liebe hat viele Gesichter, hat viele Facetten und das bedeutet vor allen Dingen, sein eigenes Herz zu verteidigen“.
„Hm“, machte ich. Manchmal sprach er in Rätseln. „Was genau heißt das, sein eigenes Herz zu verteidigen? Ich meine, es ist so schwer zu unterscheiden, wann der Kopf oder das Herz spricht. Ich kann das nicht!“
„Doch, das kannst du... das kannst du...“
„Nein, wirklich, ich kann das nicht“, hielt ich ihm entgegen. „Ich meine, ich hab nach wie vor den Wunsch, einen Namen in der Branche zu haben... habe den Wunsch, erfolgreich sein zu wollen, etwas Besonderes sein zu wollen, nicht einfach nur Mittelklasse!“
„Ja“, seufzte er. „Ich weiß, ich weiß... gib dir doch Zeit. Du stehst doch erst am Anfang. Wie oft in deinem Leben ist es dir passiert, dass du nach Jahren nicht mehr begreifen konntest, warum du dich für dieses oder jenes begeistert hast? Du kannst ja nach der kurzen Zeit deiner Ernährungsumstellung schon nicht mehr verstehen, wie du diese Massen an Fastfood in dich reinstopfen konntest. Genauso ist das mit dem einen oder anderen Wunsch... und dass du was Besonderes sein willst... warst nicht du es, die diese Casting-Shows verdammt hat und mir sagte, dass sie es nicht gut findet, wenn Menschen nur nach äußeren Maßstäben beurteilt werden? Leidest du nicht selbst darunter, dass dein Vater nur das akzeptieren kann, was du tust und nicht das, was du bist... nämlich schlicht und ergreifend seine Tochter? In unserer Welt ist es etwas Besonderes, nichts Besonderes sein zu wollen. Das ist das wahrhaft Edle“.
Ich schwieg dazu. Heute war ich nicht offen für seine Lehren. Ich war frustriert. Emilie hatte wieder blendend ausgesehen, sie war beim Friseur gewesen und hatte sich einen neuen Schnitt verpassen lassen, der ihr selbstredend hervorragend stand. Wie immer war ihr selbstgefälliger Blick über meinen Busen gewandert. Dann hatte sie ein Buch entdeckt, das mir der alte Mann gegeben und das ich unvorsichtigerweise auf dem
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