Tropfen im Ozean
Farce, lächerlich, wenn ich nicht so involviert gewesen wäre auf so stupide Weise, als Zuschauer, ohnmächtig, und doch: Ohne mich wäre die Szene nicht so, wie sie sein sollte. Ich war der notwendige Statist, der den Hauptdarstellern Gewicht verlieh, mit dessen Hilfe sie sich in Szene setzen konnten.
Emilie spielte mit J. Sie warf ihm einen kurzen, gewollt gleichgültigen Blick zu. Nicht so einen sehnsüchtigen, wie ich immer hinlegte. Sie schaffte es, einen Hauch natürlichen Rouges über ihre Wangen fluten zu lassen, die Augen züchtig gesenkt, die langen Wimpern warfen Schatten auf ihr Kindchenschema – geformtes Profil. Ich sah es in Großaufnahme, Zoom, Close up, extreme Close up, Slow Motion und ... zurück in die Halbtotale. Sie sprach ihren Text, fehlerfrei, perfekt betont, Körperhaltung stimmig:
„Wem gehört dieser Wahnsinns-SLR da unten?“ fragte sie mit honigsüßer Stimme und traf damit genau ins Schwarze. Dunkel flatterte die Erinnerung in mein Bewusstsein, dass sich Emilie schon immer für teure Autos interessiert hatte. Schwenk auf den anderen Hauptdarsteller: J hob wie in der Schule seinen Finger, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, Detailaufnahme der oberen Gesichtshälfte: Erwartungsvolles Glitzern in den Augen, ungläubiges Staunen darüber, so etwas wie Emilie in meinem Büro anzutreffen. Emilie hatte die Frage an den Statisten gerichtet, nun tat sie so, als ob sie erst jetzt richtig bemerkte, dass da noch jemand im Zimmer war. Sie wandte sich ihm zu und sagte: „Der hat ja super Felgen drauf! Wird der SLR nicht von AMG umgebaut?“
Dann beugte sie sich in ihrem knappen Kleid über meinen Schreibtisch, bohrte ihr Hinterteil in die Höhe und gab dem Statisten einen Kuss. Gemurmelter Text: „Lass dich erst mal begrüßen.“ Merken Sie, wie wichtig der Statist ist? Wie hätte sie sonst ihr Hinterteil, den Sitz ihres Kleides, die langen Beine, den Kussmund, all das auf einmal, so vorteilhaft präsentieren können? Im Augenwinkel bekam ich mit, gottergeben, wie J sein Jackett auszog und es sich vor den Unterleib hielt. Er war sichtbar aus dem Häuschen. Da war sie, Emilie, blond, C-Körbchen, lange Beine, blaue Augen und auch noch autointeressiert.
Chamäleons zeigen keine aktive Verteidigung gegenüber potenziellen Feinden, besitzen aber ein gewisses Repertoire an Drohgebärden oder Tarnstrategien zur Feindvermeidung. Das mit der Feindvermeidung ging soeben gründlich daneben. Die meisten Chamäleons drohen durch Aufreißen des Mauls, einige Arten können sogar gut hörbare Zischlaute von sich geben. Aber nichts kam aus meinem geschlossenen Mund. Letzteres traf auf mich zu: Viele der kleineren Arten lassen sich bei Gefahr zu Boden fallen und stellen sich tot (Thanatose).
Emilies Orangenduft schwebte noch in meinem Büro, als sie längst mit J unten am Auto stand und über Dinge redete, von denen ich keine Ahnung hatte. In mir flutete ein altbekanntes Gefühl hoch, stechend, schmerzend, blieb in der Kehle hängen und verursachte dort ständigen Druck. Ein Nagel im Hals. Mir war schlecht. Und ich fühlte mich wie abgestorben. Tot. Nicht nur im Becken.
Am Abend war ich noch immer im Büro. J war wieder nach oben gekommen und hatte mich darüber unterrichtet, Emilie als Visagistin einzustellen.
„Aber sie hat das nicht gelernt!“ warf ich ein. „Unsere Kunden sind höchste Qualität gewöhnt!“
„Ach Quatsch, der Mittelstand ist immer noch unser Kerngeschäft und die sind mit einer Puderquaste zufrieden“, konterte J.
„Dann brauchen wir auch keine Visagistin. Außerdem bist du dabei, in ein anderes Klientel zu wechseln“, gab ich zurück, nicht wissend, wofür ich überhaupt kämpfte.
„Ja, schon, aber die Stars haben eh meistens eigene Leute und überleg doch mal... wenn wir einem Mittelständler Emilie als Visagistin vorstellen! So wie die aussieht! Die muss gar nix können! Bei dem Vorbau kann doch keiner mehr geradeaus denken!“
Er räusperte sich lautstark, als er meinen Gesichtsausdruck sah. „... und kostengünstiger als Ella ist sie allemal!“ führte er aus. „Ich hab mit Emilie gesprochen, sie besucht einen Kurs und steht uns halbtags zur Verfügung “.
Ich schwieg. Verloren. Es war so sinnlos. In den 30 Minuten, die sie über sein Auto gequatscht hatten, hatten sie zum Du gewechselt. Drei weitere Stunden hatten sie in seinem Büro verbracht. Um über eine Halbtags-Visagisten-Stelle zu reden? Und jetzt... jetzt war sie immer noch da. Es war
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