Troposphere
ich eingeschlafen.
Ich träume von Mäusen. Ich träume von einer Mauswelt, die größer ist als diese hier und in der eine leise Stimme zu mir sagt: Sie haben Wahl, oder irgendwas in der Art, und das die ganze Nacht.
Ich werde erst nach zehn Uhr, in Jeans und Pullover auf dem Sofa zitternd, wieder wach, während das harte Winterlicht gleißend durch das Küchenfenster auf mich fällt. Ich habe das Stück Pappe offenbar fallen lassen, als ich einschlief, weil es jetzt auf meinem Bauch liegt. Bei Tageslicht sieht es erbärmlich aus: eine Kritzelei auf einem billigen, wabbeligen Stück nicht ganz weißer Pappe. Das hätte ich besser machen müssen, aber ich war ziemlich betrunken. Also hat es nicht funktioniert. Oder es hat nicht funktioniert, weil ich es verpatzt habe. Aber wie lange versucht man es immer wieder, bis man begreift, dass man (wieder einmal) von einem Roman reingelegt wurde und dass es die vertraute, enttäuschende Welt ist, die wirklich ist? Sie haben Wahl. Ich habe die Wahl, mit der Obsession Schluss zu machen, ich wäre verflucht. Ich habe die Wahl, mit dem Trinken von Cocktails Schluss zu machen, die in seltenen Büchern vorgeschlagen werden. Ich könnte vermutlich versuchen, das Buch zu verkaufen, obwohl es beschädigt ist. Aber sogar, während ich dies denke, weiß ich, dass nichts mich dazu bringen könnte, die Sache aufzugeben. Also werde ich das Buch behalten, aber so weitermachen wie vorher. Ich werde für die Zeitschrift etwas über Flüche schreiben. Ich werde mit der Doktorarbeit weitermachen. Ein Kapitel zu Lumas über die unscharfe Grenze zwischen Erzählprosa und Sachprosa und das Gedankenexperiment, das ein physikalisches Experiment wird. Ein Zaubertrick, der einen die Welt mit anderen Augen sehen lässt …
Nur dass ich mich nicht so fühle, als sähe ich die Welt mit anderen Augen. Ich fühle mich so, als hätte ich kein Auge zugetan. Und mein Bauch schmerzt wie bei Menstruationsbeschwerden, nur ein bisschen höher. Das Wasser muss verunreinigt gewesen sein. Vielleicht sollte ich was essen. Vielleicht geht es mir dann besser.
Im Kühlschrank ist noch etwas Sojamilch, also stelle ich Porridge auf den Herd, und Kaffee. Als ich ins Schlafzimmer gehe, um mir einen anderen Pullover anzuziehen, merke ich erst, wie kalt mir ist und wie müde ich wirklich bin. Ich glaube, ich brauche auch einen Schal. Während ich mir den dicken schwarzen Pullover über den Kopf ziehe und mir einen langen schwarzen Wollschal um den Hals wickle, sehe ich aus dem Fenster. Von der Innenseite des Fensterrahmens hängen kleine Eiszapfen herunter: die Art Detail, an die zurückzudenken man sich für einen zukünftigen Zeitpunkt fest vornimmt, wenn das eigene Leben dann in geregelten Bahnen verläuft und man irgendwelchen Leuten eine Anekdote darüber erzählen will, wie arm man in jenem Winter und wie trostlos die Wohnung war. Aber meine Zuversicht, was diese Zukunft betrifft, sinkt von Tag zu Tag. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich sie überhaupt haben will. Ha ha, als ich arm war. Ha ha, hast du dieses Stück im Theater gesehen? Ha ha, ich weiß, dass es wirklich das letzte ist, aber ich habe in letzter Zeit daran gedacht, dass es sinnvoll sein könnte, die Konservativen zu wählen. Ich will alles tun, um dieses Leben zu vermeiden. Vielleicht lebe ich einfach immer so weiter. Deswegen bin ich an der Bedeutung der Eiszapfen nicht sonderlich interessiert. Es gibt eben Eiszapfen. Ich lächle kurz, obwohl niemand zusieht, und schlage mir den Schal noch einmal um den Hals.
Ich gehe durch den langen Flur zurück in die Küche und werfe im Vorbeigehen einen Blick auf die Holztür mit ihren zahllosen dicken Lackschichten. Ich habe das eigenartige Gefühl, dass die Tür viel zu klein ist oder dass ich viel zu groß bin. Es ist ein regelrechtes Déjà-vu-Gefühl, als wäre ich kurz davor, zu schrumpfen und zu einer Tür hochzusehen, die hundertmal so groß ist wie ich selbst und nicht nur rund dreißig Zentimeter höher. Aber es passiert nichts, es bleibt einfach ein Gedanke in meinem Kopf: ein Parallelgedanke, vielleicht etwas, das irgendeinem anderen Ich draußen im Multiversum widerfährt. Die Empfindung erinnert mich daran, wie mir mal jemand Tee aus halluzinogenen Pilzen gab, ohne mir was davon zu sagen, und ich den ganzen Abend damit verbrachte, diesem pink- und cremefarbenen vorstädtischen Wohnzimmer dabei zuzusehen, wie es um mich herum wuchs und zusammenschrumpfte. Ich erinnere mich, dass der Fernseher in
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