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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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mache, habe ich den ganzen Tag was zu tun. Heute Abend kann ich dann zugeben, dass mein Abenteuer vorüber ist, und wieder mit meinem normalen Leben weitermachen. Vielleicht lese ich »Erewhon« noch einmal. Das hebt normalerweise meine Stimmung.
    Also nehme ich das Fläschchen in die Hand und schüttele es nochmals ein bisschen. Ach, was soll's – ich schlage damit zweimal hart gegen die Seite des Sofas. Ich vermute, ich habe jetzt zu viel geschüttelt und geschlagen, aber das macht die Mixtur doch bestimmt stärker und nicht schwächer, oder? Ich rufe mir wieder die Homöopathiebücher ins Gedächtnis und erinnere mich: Falls ich einen Tropfen dieser Mixtur nähme und ihn in Wasser auflöste und das Ganze noch ein bisschen schüttelte, würde die daraus resultierende Flüssigkeit stärker sein als die ursprüngliche Mixtur, obwohl sie, wissenschaftlich gesprochen, noch mehr verdünnt wäre. Wie funktioniert das? Komm schon, Ariel, hör auf, darüber nachzudenken, und gib einfach Gas. Es geht nur um dich und die Flüssigkeit. Okay. Ich trinke sie: ein großer Schluck. Dann lege ich mich auf das Sofa und starre den schwarzen Kreis an, wobei ich mich so gut konzentriere, wie es geht. Und diesmal schlafe ich nicht ein: Ich beobachte, wie der schwarze Kreis sich in zwei teilt, und versuche, nicht zu blinzeln, während er wie ein Kaleidoskop auf dem Blatt Papier herumtanzt, sich hebt und dreht.
    Und dann, von einem Moment zum andern, der Übergang fühlt sich dünner und schärfer als die Schneide eines Rasiermessers an, falle ich. Ich falle in einen schwarzen Tunnel, den gleichen schwarzen Tunnel, den Mr. Y in dem Buch beschrieben hat. Aber ich falle nicht nach unten, falls man das so sagen kann: Ich falle vorwärts, nach vorn, horizontal. Die Wände des Tunnels fliegen an mir vorbei, als säße ich in einem Wagen, aber ich sitze in keinem Wagen. Wo ich auch sein mag, es ist vollkommen still, und ich habe überhaupt keine körperlichen Empfindungen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Körper hier bei mir ist, aber er hat keine Gefühle und keine Wünsche. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich irgendwas anhabe. Nur mein Geist fühlt sich lebendig an. Ich sehe – obwohl es mir nicht so vorkommt, als sähe ich wirklich durch meine Augen – fast genau das, was Mr. Y sah: alles um mich herum schwarz, plötzlich durchbrochen von winzigen Lichtern, die sich in Wellenlinien verwandeln und in die Unendlichkeit fortzusetzen scheinen. Dann ein riesiger Penis, der in demselben Stil gezeichnet ist wie der am Cerne Abbas Giant, aber hier aus Licht. Und auch eine Vagina, die mir aber weniger vertraut vorkommt und dann wieder verschwunden ist. Ich scheine mich schneller zu bewegen. Ich sehe die Vögel und die Füße und Augen, die Mr. Y sah, aber mir kommen sie wie ägyptische Hieroglyphen vor, Sachen, die man in der Grundschule lernt. Dann sehe ich viele Buchstaben: griechische, lateinische und kyrillische. Ich erkenne nicht alle, aber nach einer Weile richten sie sich selbst zu Alphabeten aus, und mehrere Minuten lang scheint sich im Tunnel nichts zu ändern. Könnte ich dieses Erlebnis anhalten, wenn ich wollte? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte. Kann mein Verstand diese wie auch immer geartete Erfahrung überhaupt bewältigen? Halluzinogene habe ich nie besonders gemocht, weil man die Sache so wenig im Griff hat und weil man den Trip bis zum Ende durchhalten muss – man kann ihn nicht einfach abstellen. Jetzt bin ich hier, und ich weiß, dass ich das hier nicht abstellen kann. Ich könnte verrückt werden. Vielleicht bin ich gerade verrückt geworden. Vielleicht sieht es ja so aus, wenn man den Verstand verliert, und vielleicht komme ich hier nie wieder raus. Während ich darüber nachdenke, wird mir langsam schlecht, deswegen versuche ich mit dem Nachdenken aufzuhören und sehe mir stattdessen wieder die Tunnelwände an.
    Die Alphabete sehen vertrauter aus und umfassen mittlerweile Ziffern, wenn auch in Mustern, die ich nicht sofort erkenne. Merkwürdige Kombinationen von römischen Ziffern, die ich nicht verstehe, sind mit Zahlenfolgen durchsetzt, die folgendermaßen beginnen: 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19 und 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21. Zumindest nehme ich an, dass es Zahlenfolgen sind, aber kurz darauf lösen sie sich in lange Reihen von Ziffern auf, die wie kosmische Telefonnummern aussehen. An manchen Stellen kann ich Gleichungen erkennen, aber sie flackern nur auf und verschwinden. Ich bin sicher, dass ich

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