Trouble - Ein Jack-Reacher-Roman
einer großkalibrigen Waffe auf sie zu schießen. Das Ergebnis wäre schlimm gewesen: das Geschoss, dazu Glas- und Metallsplitter, alle durchs Auge und ins Gehirn und am Hinterkopf wieder hinaus. Nein, Spione waren eine schlechte Erfindung, fand Reacher.
Er hakte die Kette aus und legte den Hebel um. Öffnete die Tür.
Karla Dixon.
Sie war noch immer vollständig bekleidet. Das musste sie natürlich sein, um durch Korridore gehen und mit dem Aufzug fahren zu können.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.
»Ich wollte dich eben anrufen«, sagte Reacher.
»Ah?«
»Ich war auf dem Weg zum Telefon.«
»Warum?«
»Einsam.«
»Du?«
»Ich bestimmt. Du hoffentlich.«
»Darf ich also reinkommen?«
Er hielt die Tür weit auf. Sie kam herein. Binnen einer Minute entdeckte er, dass eine Bluse nicht das Einzige war, was sie unter dem Hosenanzug nicht trug.
Morgens um halb neun klingelte das Telefon auf seinem Nachttisch. Neagley war am Apparat.
»Dixon ist nicht in ihrem Zimmer«, sagte sie.
»Vielleicht trainiert sie«, entgegnete Reacher. »Oder joggt oder sonst was.«
Dixon lächelte und kuschelte sich an ihn.
Neagley sagte: »Dixon trainiert nicht.«
»Dann steht sie vielleicht unter der Dusche.«
»Ich hab schon zweimal versucht, sie anzurufen.«
»Keine Aufregung. Ich versuch’s mal. Wir treffen uns in einer halben Stunde unten zum Frühstück.«
Er legte auf. Dann übergab er den Hörer Dixon und wies sie an, bis sechzig zu zählen, anschließend Neagley anzurufen und ihr zu erklären, sie komme gerade aus dem Bad. Eine halbe Stunde später frühstückten sie alle gemeinsam in dem vom Lärm der Spielautomaten erfüllten Hotelrestaurant. Eine weitere Stunde später waren sie wieder auf dem Strip und zu der Bar mit der Feuergrube unterwegs.
48
Las Vegas am späten Vormittag wirkte in der grellen Wüstensonne klein, flach und exponiert. Das Licht war erbarmungslos. Es enttarnte jeden Fehler, jeden faulen Kompromiss. Was nachts wie genialischer Impressionismus ausgesehen hatte, erwies sich tagsüber als plumpe Fälschung. Der Strip selbst hätte jede abgefahrene vierspurige Stadtstraße in Amerika sein können. Diesmal bewegten sie sich als geschlossene Vierergruppe: zwei voraus, zwei dahinter, ein kleineres Gesamtziel, wachsam und ständig darüber informiert, wen sie vor und hinter sich hatten.
Aber vor oder hinter ihnen ging niemand. Der Verkehr war überschaubar, die Gehsteige waren leer. Um diese Tageszeit herrschte in Vegas beinahe Stille.
Auch auf der Großbaustelle auf halber Strecke rührte sich nichts.
Sie war verwaist.
Menschenleer.
»Ist heute Sonntag?«, fragte Reacher.
»Nein«, antwortete O’Donnell.
»Feiertag?«
»Nein.«
»Warum arbeiten sie dann nicht?«
Hier waren keine Cops zu sehen. Kein Absperrband, das einen Tatort sicherte. Keine großen Ermittlungen. Einfach nichts. Reacher konnte sehen, wo er in der Nacht zuvor ein Stück des Bauzauns eingerissen hatte. Dahinter war der Erdboden schlammig, wo Neagley ihn mit dem Schlauch abgespritzt hatte. Auf dem alten Gehsteig zeichnete sich ein riesiger angetrockneter Fleck ab. Im Rinnstein führte noch eine dünne rötliche Schlammspur zum nächsten Gully. Alles ziemlich unordentlich, aber Großbaustellen waren nie ordentlich. Nicht perfekt, aber brauchbar. Hier gab es nichts, was Passanten ins Auge gefallen wäre.
»Verrückt«, sagte Reacher.
»Vielleicht ist ihnen das Geld ausgegangen«, meinte O’Donnell.
»Schlimm. Der Kerl fängt bestimmt bald zu riechen an.«
Sie gingen weiter. Diesmal wussten sie genau, wohin sie wollten, fanden bei Tageslicht eine Abkürzung durch das Labyrinth aus Schlängelstraßen und erreichten die noch nicht geöffnete Bar mit der Feuergrube aus einer anderen Richtung. Sie setzten sich auf eine niedrige Stützmauer, warteten und blinzelten in der Sonne. Es war sehr warm, fast heiß.
»Zweihundertelf klare Tage pro Jahr in Vegas«, dozierte Dixon.
»Höchsttemperatur im Sommer einundvierzig Grad.«
»Tiefsttemperatur im Winter zwei Grad.«
»Hundert Millimeter Regen im Jahr.«
»Fünfundzwanzig Millimeter Schnee – manchmal.«
»Ich bin noch immer nicht dazugekommen, den Reiseführer zu lesen«, sagte Neagley.
Als die Uhr in Reachers Kopf dann 11.40 Uhr anzeigte, erschienen die ersten Leute zur Arbeit. Sie kamen einzeln, zu zweit oder in lockeren Gruppen die Straße entlang: Männer und Frauen, die sich langsam, ohne sichtbaren Enthusiasmus bewegten. Als sie vorbeigingen, fragte
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