Trübe Wasser sind kalt
wirklich nicht, oder?« sagte er nachdenklich. »Könnte doch sein, daß damals irgend etwas abgefeuert wurde, irgendein Müll hineingeschmissen und irgendwer an irgendeinem Platz getötet wurde. Damals gab es ja keine Fernsehkameras oder Reporterschwärme überall. Bloß Mathew Brady, und übrigens bin ich ein Geschichtsfan und habe viel über den Bürgerkrieg gelesen. Ich persönlich glaube, daß dieser Eddings in diesem Schiffsfriedhof getaucht ist, damit er den Grund des Flußes nach Reliquien durchkämmen konnte. Er hat Gase aus seiner Maschine eingeatmet und ist gestorben, und was er auch immer in Händen gehabt hat -einen Metalldetektor zum Beispiel -, ist im Schlick verlorengegangen.«
»Ich behandele diesen Fall als möglichen Mordfall«, sagte ich nachdrücklich.
»Da stimme ich mit Ihnen nicht überein, aufgrund dessen, was mir berichtet wurde.«
»Ich nehme an, die Staatsanwältin ist meiner Meinung, wenn ich mit ihr rede.«
Darauf sagte der Chief nichts.
»Ich darf wohl annehmen, daß Sie nicht vorhaben, das FBI hinzuzuziehen«, fügte ich noch hinzu. »Da Sie ja entschieden haben, daß wir es mit einem Unfall zu tun haben.«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich weit und breit keinen Grund, das FBI zu behelligen. Und das habe ich denen auch gesagt.«
»Also für mich gibt es jede Menge Gründe«, antwortete ich. Das war alles, was ich noch tun konnte, bevor ich auflegte. »Verdammt, verdammt, verdammt!« brummelte ich, packte wütend meine Sachen und marschierte zur Tür hinaus. Unten in der Leichenhalle nahm ich einen Schlüsselbund von der Wand und ging auf den Parkplatz hinaus. Ich schloß die Fahrertür des dunkelblauen Kombis auf, den wir manchmal benutzten, um Leichen zu transportieren. Er fiel nicht so auf wie ein Leichenwagen, war aber auch nicht gerade das, was man in der Einfahrt des Nachbarn erwartete. Er war sehr groß, hatte getönte Scheiben, die mit Jalousien, ähnlich wie bei offiziellen Leichenwagen, verdunkelt waren, und wo sonst die Rücksitze waren, lag eine Sperrholzplatte, in die Halterungen eingelassen waren, damit Bahren während des Transports nicht verrutschten. Mein Leichenhallenaufseher hatte Raumdeodorants an den Rückspiegel gehängt, und der Geruch nach Zedern war widerlich. Ich öffnete mein Fenster ein Stück und fuhr auf die Main Street, dankbar, daß mittlerweile die Straßen nur noch naß waren und der Stoßverkehr nicht zu schlimm war. Die feuchte, kühle Luft tat mir gut, und ich wußte, was ich zu tun hatte. Es war schon eine Weile her, daß ich auf dem Heimweg bei einer Kirche angehalten hatte, denn ich dachte nur daran, wenn ich in einer Krise steckte, wenn das Leben mich mal wieder an die Grenze getrieben hatte. An der Ecke Three Chopt Road und Grove Avenue fuhr ich auf den Parkplatz der St. Bridget's Church, ein Gebäude aus Backstein und Schiefer, dessen Türen abends nicht mehr wie früher unverschlossen waren, seit die Welt so geworden war, wie sie war. Aber um diese Zeit trafen sich die Anonymen Alkoholiker dort, und ich wußte immer, wie ich unbehelligt hineinkommen konnte.
Ich ging durch eine Seitentür hinein, besprengte mich mit Weihwasser und schritt dann ins Kirchenschiff mit seinen Heiligenstatuen und den Kreuzigungsszenen in leuchtendem Bleiglas. Ich ging in die letzte Reihe, und ich hätte mir Kerzen gewünscht, aber dieses Ritual hatte hier mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgehört. Während ich niederkniete, betete ich für Ted Eddings und seine Mutter. Ich betete für Marino und Wesley. In meinem privaten, dunklen Refugium betete ich auch für meine Nichte. Dann saß ich stumm, mit geschlossenen Augen da und spürte, wie die Spannung allmählich von mir wich. Es war schon fast sechs Uhr, als ich mich wieder aufmachte, aber in der Vorhalle hielt ich inne, weil ich am Ende eines Gangs die erleuchtete Türöffnung der Bibliothek sah. Ich wußte nicht, was mich in diese Richtung lenkte, aber mir fiel ein, daß ein böses Buch durch ein heiliges in Bann gehalten werden könnte. Einige Augenblicke mit dem Katechismus wären genau das, was der Priester verschreiben würde. Als ich eintrat, war da eine ältere Frau, die Bücher in die Regale räumte.
»Dr. Scarpetta?« fragte sie und schien zugleich überrascht und erfreut.
»Guten Abend.« Ich schämte mich, daß mir ihr Name nicht mehr einfiel. »Ich bin Mrs. Edwards.«
Ich erinnerte mich, daß sie die sozialen Dienste der Kirche leitete und Konvertiten Unterricht im Katholizismus
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