Trübe Wasser sind kalt
die Kirche gegangen?«
»Ich bin meinetwegen hin«, sagte ich. »Aber du bist das Hauptgesprächsthema gewesen.«
Sie schlug die Bettdecke zurück. »›Das höchste Ziel eines Menschen ist, Gott ewiglich zu rühmen und zu preisen‹«, sagte sie, als sie aufstand. Ich wartete im Türrahmen.
»Katechismus. Ich hatte an der UVA ein Religionsseminar. Magst du zu Abend essen?«
»Was hättest du denn gern?«
»Was schnell geht.« Sie kam zu mir und drückte mich an sich.
»Tante Kay, es tut mir leid«, sagte sie.
In der Küche öffnete ich erst die Gefriertruhe, sah aber nichts Verlockendes. Dann schaute ich in den Kühlschrank, aber mein Appetit hatte sich mit meinem Seelenfrieden verflüchtigt. Ich aß eine Banane und machte eine Kanne Kaffee. Um halb neun meldete sich unvermutet das Funkgerät auf der Anrichte.
»Einheit sechshundert an Basisstation eins«, ertönte Marinos Stimme.
Ich nahm das Mikrophon und antwortete ihm: »Basisstation eins.«
»Kannst du mich anrufen?«
»Gib mir die Nummer«, sagte ich. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Es war denkbar, daß die von meinem Büro benutzte Funkfrequenz eventuell abgehört wurde, und immer wenn ein Fall besonderes Fingerspitzengefühl verlangte, versuchten die Detectives, uns alle aus dem Funkverkehr herauszuhalten. Die Nummer, die mir Marino gab, war ein öffentlicher Fernsprecher.
Als er sich meldete, sagte er: »Entschuldige, ich hatte kein Kleingeld.«
»Was ist los?« Ich verschwendete keine Zeit. »Ich übergehe gerade den diensthabenden Pathologen, weil ich wußte, du möchtest, daß wir dich zuerst informieren.«
»Was ist?«
»Scheiße, Doc, es tut mir echt leid. Aber wir haben Danny.«
»Danny?« sagte ich bestürzt. »Danny Webster. Aus deine m Büro in Norfolk.«
»Was soll das heißen, ihr habt Danny?« Furcht ergriff mich. »Was hat er getan?« Ich stellte mir vor, daß er in meinem Auto festgenommen worden war. Oder vielleicht hatte er es zu Schrott gefahren.
Marino sagte nur: »Doc, er ist tot.«
Dann herrschte Schweigen auf beiden Enden der Leitung.
»Oh Gott.« Ich lehnte mich an die Anrichte und schloß die Augen. »Oh, mein Gott«, sagte ich. »Was ist geschehen?«
»Hör zu, das beste wär, glaub ich, du kommst hierher.«
»Wo bist du?«
»Sugar Bottom, bei dem alten Eisenbahntunnel. Dein Wagen ist einen Häuserblock entfernt oben am Libby Hill Park.« Ich stellte keine Fragen mehr, sondern sagte Lucy, ich müsse weg und käme wahrscheinlich erst spät wieder heim. Ich griff nach meiner Arzttasche und meiner Pistole, denn ich kannte das Kneipenviertel der Stadt, wo sich der Tunnel befand, konnte mir aber nicht vorstellen, was Danny dorthin gelockt haben könnte. Er und sein Freund hätten mein Auto und Lucys Suburban zu meinem Büro fahren sollen, wo mein Verwalter sie treffen und zur Bushaltestelle hätte fahren sollen. Church Hill war gewiß nicht weit vom Büro entfernt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, warum Danny in meinem Mercedes irgendwo andershin hätte fahren sollen als zum vereinbarten Treffpunkt. Er schien mir nicht der Typ zu sein, der mein Vertrauen mißbrauchte.
Ich fuhr eilig die West Cary Street hinunter, vorbei an großen Backsteinhäusern mit kupfer-oder schiefergedeckten Dächern und Einfahrten, die von hohen, schwarzen Toren aus Schmiedeeisen versperrt waren. Mir kam es surreal vor, im Wagen des Leichenschauhauses durch diesen vornehmen Stadtteil zu fahren, während einer meiner Angestellten getötet worden war, und es quälte mich, daß ich Lucy wieder hatte allein lassen müssen. Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich beim Weggehen die Alarmanlage eingeschaltet und die Sensoren ausgeschaltet hatte. Meine Hände zitterten, und ich sehnte mich nach einer Zigarette.
Libby Hill Park, einer von Richmonds sieben Hügeln, lag in einer Gegend, die mittlerweile als beste Wohnlage galt. Hundert Jahre alte Reihenhäuser und Gebäude im neoklassizistischen Stil waren glänzend restauriert worden, von Leuten, die mutig genug waren, einen historischen Teil der Stadt dem Verfall und dem Verbrechen zu entreißen. Für die meisten Anwohner hatte sich das Risiko gelohnt, aber ich wußte, daß ich nicht in der Nähe von Sozialwohnungen und heruntergekommenen Vierteln leben könnte, wo Drogen den Haupterwerbszweig bildeten. Ich wollte keine Fälle aus meiner Nachbarschaft zu bearbeiten haben. Streifenwagen mit rot und blau blinkenden Lichtern säumten beide Seiten der Franklin Street. Es war ansonsten stockfinster,
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