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Trübe Wasser sind kalt

Trübe Wasser sind kalt

Titel: Trübe Wasser sind kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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es ihr zu sagen.«
    Er verstummte und wischte sich wieder übers Gesicht. Er räusperte sich mehrmals.
    Dann sagte er: »Einen Monat später ist sie gegangen.«
    »Hör zu«, sagte ich mit sanfterer Stimme, »ich möchte auch nicht von diesen Tellern essen. Selbst wenn ich es besser weiß. Ich kenne mich mit Angst aus, und Angst ist selten rational.«
    »Ja, ja, Doc, vielleicht ist das in meinem Fall so.« Er öffnete sein Fenster einen Spalt. »Ich habe Angst vorm Sterben. Jeden Morgen beim Aufstehen denke ich dran, wenn du es wissen willst. Jeden Tag glaube ich, daß ich einen Schlaganfall bekomme oder daß ich Krebs habe. Ich fürchte mich davor, ins Bett zu gehen, weil ich Angst habe, im Schlaf zu sterben.« Er verstummte und fügte dann mit großer Überwindung hinzu: »Das ist der eigentliche Grund, warum Molly sich nicht mehr mit mir getroffen hat, wenn du es genau wissen willst.«
    »Das ist kein besonders netter Grund.« Seine Worte taten mir weh.
    »Na ja« -er wurde noch verlegener -»sie ist ein gutes Stück jünger als ich. Und zum Teil ist mir heutzutage danach, nichts zu tun, was mich überanstrengt.«
    »Dann hast du Angst vor dem Sex.«
    »Scheiße«, sagte er, »warum hängst du's nicht gleich an die große Glocke?«
    »Marino, ich bin Ärztin. Ich will dir lediglich helfen, wenn ich kann.«
    »Molly hat gemeint, sie fühle sich von mir zurückgewiesen«, redete er weiter.
    »Und das war wahrscheinlich auch so. Seit wann hast du dieses Problem schon?«
    »Ich weiß nicht. Seit Thanksgiving.«
    »Ist da irgendwas Besonderes passiert?«
    Er zögerte wieder. »Na ja, weißt du, ich hab meine Medikamente abgesetzt.«
    »Welche? Deine Beta-Blocker oder die Enzymhemmer? Und nein, das habe ich noch nicht gewußt.«
    »Beides.«
    »Also warum hast du so einen Blödsinn gemacht?«
    »Weil nichts klappt, wenn ich sie einnehme«, platzte er heraus. »Ich habe sie nicht mehr eingenommen, als ich angefangen habe, mich öfter mit Molly zu treffen. Dann habe ich kurz vor Thanksgiving wieder damit begonnen, nachdem ich mich gründlich habe untersuchen lassen und mein Blutdruck so hoch war und das mit meiner Prostata wieder schlimmer wurde. Das hat mir Angst gemacht.«
    »Keine Frau ist es wert, für sie zu sterben«, sagte ich. »Und eigentlich geht es hier um eine Depression, und dafür bist du übrigens der perfekte Kandidat.«
    »Ja, ja, es ist deprimierend, wenn du es nicht mehr bringst. Das verstehst du nicht.«
    »Natürlich verstehe ich das. Es ist deprimierend, wenn dein Körper dir nicht mehr gehorcht, wenn du älter wirst und andere Streßfaktoren wie zum Beispiel Veränderungen in deinem Leben auftauchen. Und du hast in den letzten paar Jahren eine Menge Veränderungen durchmachen müssen.«
    »Nein«, sagte er, und seine Stimme wurde lauter, »wirklich deprimierend ist, wenn du ihn nicht mehr hochkriegst. Und dann kriegst du ihn manchmal hoch, und er schlafft nicht mehr ab.
    Und du kannst nicht pinkeln, wenn du das Bedürfnis verspürst, und dann wieder mußt du, wenn du gar nicht das Bedürfnis hast.
    Und dazu kommt das ganze Problem, daß du nicht in der Stimmung bist, wenn du eine Freundin hast, die vom Alter her beinahe deine Tochter sein könnte.« Er sah mich direkt an, die Adern am Hals stachen heraus. »Ja, ja, ich bin deprimiert. Du hast verdammt recht!«
    »Bitte, sei nicht auf mich böse.« Er schaute weg, atmete schwer.
    »Ich möchte, daß du mit deinem Kardiologen und deinem Urologen Termine vereinbarst«, sagte ich.
    »Mhm. Geht nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Nach unserem verdammten neuen Gesundheitsvorsorgeplan bin ich einer Urologin zugeteilt. Ich kann nicht zu einer Frau gehen und ihr diesen ganzen Mist erzählen.«
    »Warum nicht? Mir hast du es doch gerade erzählt.« Er verstummte und starrte aus dem Fenster. Er schaute in den Außenspiegel und sagte: »Übrigens, da ist seit Richmond so ein Idiot in einem goldenen Lexus hinter uns.« Ich blickte in den Rückspiegel. Das Auto war ein neueres Modell, und der Fahrer telefonierte gerade. »Glaubst du, wir werden verfolgt?« fragte ich. »Was weiß ich, aber ich möchte seine verdammte Telefonrechnung nicht bezahlen müssen.«
    Wir waren in der Nähe von Charlottesville, und die sanft gewellte Landschaft, aus der wir kamen, war Hügeln gewichen, in deren winterliches Grau sich das Immergrün der Koniferen mischte. Es war kälter, und es lag mehr Schnee, auch wenn die Interstate trocken war. Ich fragte Marino, ob wir den Sprechfunk

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