Trügerische Ruhe
niemand dran, also dachte ich mir, ich lasse sie ausrufen. Falls sie im Haus sein sollte.«
»Sollte sie tatsächlich bei Ihnen anrufen, könnten Sie ihr bitte sagen, daß ich auch versuche, sie zu erreichen?«
»Aber sicher. Es wundert mich ein bißchen, daß sie mich nicht zurückgerufen hat.«
Lincoln schwieg einen Moment. »Wie meinen Sie das, zurückgerufen? Haben Sie denn vorher schon mit ihr gesprochen?«
»Ja, Sir. Sie hat mich gebeten, ihr einige Informationen zu beschaffen.«
»Wann ist das gewesen?«
»Sie hat heute so gegen Mittag angerufen. Es schien ziemlich dringend zu sein. Ich habe angenommen, sie würde sich eher wieder melden.«
»Was waren das für Informationen, die sie wollte?«
»Über eine Firma namens Anson Biologicals.«
»Was für eine Firma ist das?«
»Wie es aussieht, machen sie nur die Auslieferung für Sloan-Routhier. Sie wissen schon, der Pharmariese. Aber ich habe keine Ahnung, warum sie etwas darüber wissen wollte.«
»Wissen Sie, von wo aus Dr. Elliot Sie angerufen hat?«
»Chief Kelly, ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Lincoln legte auf. Seit zwölf Uhr mittags hatte niemand mit Claire gesprochen – und das war vor neun Stunden gewesen.
Er ging hinaus auf den Parkplatz des Krankenhauses. Es war ein klarer Tag gewesen, ohne Schnee, und alle Autos waren mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Er fuhr mit seinem Streifenwagen im Schrittempo an den geparkten Wagen vorbei und hielt Ausschau nach Claires Subaru. Er war nicht da.
Sie hat das Krankenhaus verlassen, und dann? Wo könnte sie hingefahren sein?
Er machte sich auf den Weg zurück nach Tranquility, und seine Besorgnis wuchs. Die Straße war zwar frei, die Fahrbahn nicht vereist, aber er fuhr dennoch langsam und suchte die schneebedeckten Seitenstreifen nach Anzeichen dafür ab, daß ein Auto von der Straße abgekommen war. Vor Claires Haus hielt er lange genug an, um sich zu vergewissern, daß sie nicht dort war.
Seine Besorgnis verwandelte sich allmählich in nackte Angst.
Von zu Hause aus machte er noch eine Reihe weiterer Anrufe: das Krankenhaus, Max Tutwilers Bungalow, die Polizeizentrale. Claire war nirgends zu finden.
Er saß in seinem Wohnzimmer und starrte das Telefon an. Seine Angst wurde immer stärker, sie nagte an seinen Nerven. Zu wem würde sie gehen? Ihm vertraute sie nicht mehr, und das war es, was ihn am meisten schmerzte. Er ließ den Kopf in die Hände sinken und versuchte verzweifelt, sich ihr Verschwinden zu erklären.
Sie war wegen Noah ganz außer sich gewesen. Für ihren Sohn würde sie alles tun.
Noah. Es mußte mit Noah zusammenhängen.
Er griff wieder zum Telefon und rief Fern Cornwallis an.
Sie hatte kaum abgehoben, als er schon fragte: »Wer war das Mädchen, um das sich Noah Elliot geprügelt hat?«
»Lincoln? Wie spät ist es?«
»Nur den Namen, Fern. Ich muß den Namen des Mädchens wissen.«
Fern seufzte matt. »Es war Amelia Reid.«
»Ist das Jack Reids Mädchen?«
»Ja. Er ist ihr Stiefvater.«
Auf dem Schnee war Blut.
Als Lincoln in den Hof des Reid’schen Farmhauses einbog, streiften die Lichtkegel seiner Scheinwerfer einen ominösen dunklen Fleck auf der ansonsten makellos weißen Fläche. Er brachte den Wagen zum Stehen und starrte die verfärbte Stelle im Schnee an, und Angst krampfte plötzlich seinen Magen zusammen. Jack Reids Transporter stand in der Einfahrt, aber das Haus war dunkel. Schlief die ganze Familie?
Langsam stieg er aus dem Streifenwagen und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden. Zuerst sah er nur einen einzigen roten Spritzer, einen blutigen Rorschach-Schmetterling. Dann sah er die anderen Spritzer, eine ganze Reihe davon, die um die Hausecke herumführten, begleitet von Fußabdrücken – sowohl Menschen – als auch Hundespuren. Er besah sich die Spuren und dachte plötzlich: Wo sind die Hunde? Jack Reid besaß zwei davon, ein Paar Pitbulls, die ständig Ärger machten und die häßliche Angewohnheit hatten, jede Katze aus der Nachbarschaft, die ihnen über den Weg lief, zu zerfetzen. Stammten diese Blutspuren von irgendeiner glücklosen Kreatur, die sich auf das falsche Grundstück verirrt hatte?
Er kniete nieder, um sich die Sache genauer anzusehen, und fand im Schnee einen Fetzen dunklen Fells, an dem noch das blutige Fleisch hing. Nur ein totes Tier – eine Katze oder ein Waschbär, dachte er, und seine Anspannung ließ ein wenig nach. Aber nicht ganz – denn die Pitbulls konnten noch irgendwo in der Nähe
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