Trügerische Ruhe
inzwischen wieder weggefahren.
Aber jemand mußte hier ausgestiegen sein, denn er hatte knöcheltiefe Fußspuren im Schnee hinterlassen.
Sie stieg aus, um sich die Abdrücke anzusehen. Sie stammten von großen Stiefeln – eine Männergröße. Die Spuren führten mehrfach in den Wald hinein und wieder zurück.
Sie hatte oft gehört, daß Schnee der beste Freund des Jägers und Spurensuchers war. Sie war jetzt die Jägerin und folgte der deutlichen Spur im Schnee durch den Wald. Sie hatte keine Angst, sich zu verirren; schließlich hatte sie eine Taschenlampe, falls es dunkel wurde, und sie hatte ihr Handy in der Tasche. Die Spur würde sie jederzeit zum Wagen zurückführen. Zu ihrer Rechten hörte sie das Geräusch fließenden Wassers, und ihr wurde klar, daß sie sich in der Nähe des Wasserlaufs befand. Die Fußspuren verliefen parallel zum Ufer, das sanft bis zu einer massiven Ansammlung von Felsen anstieg.
Sie blieb stehen und blickte staunend empor. Der schmelzende Schnee war herabgetropft und in der Kälte augenblicklich wieder zu einer bläulichen Skulptur aus gerillten Kaskaden erstarrt. Claire stand am Fuß dieses Gebildes, das vor Urzeiten durch einen Erdrutsch entstanden war, und sie zerbrach sich den Kopf über das abrupte Verschwinden der Fußspuren. Hatte Max diese Felsen erklommen? Der Wind hatte die Oberfläche des Eises zu glasiger Härte poliert. Es würde sehr schwierig und gefährlich sein, hier emporzuklettern.
Das Geräusch des Baches weckte wieder ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte hinab, dorthin, wo das fließende Wasser den Schnee weggeschwemmt hatte, und sah den schwachen Abdruck eines Absatzes im Schlamm. Wenn er durch den Bach gewatet war, warum tauchten dann seine Fußstapfen auf der anderen Seite nicht wieder auf?
Sie tat einen Schritt in den Bach und fühlte, wie das eisige Wasser durch die Schnürlöcher in ihre Stiefel eindrang. Noch ein Schritt, und das Wasser reichte bis zum oberen Rand ihrer Stiefel; schon wurde der Saum ihrer Hose naß. Jetzt erst sah sie die Öffnung in den Felsen.
Die Felsspalte war zum Teil durch einen Strauch verdeckt, der im Sommer üppig belaubt sein mußte. Um die Öffnung zu erreichen, mußte sie weiter in das Bachbett hinauswaten, bis ihr das Wasser an die Waden reichte. Sie erklomm einen flachen Felsvorsprung, dann zwängte sie sich durch den niedrigen Eingang in die dahinterliegende, etwas weitere Kammer.
Sie war gerade so hoch, daß Claire aufrecht stehen konnte. Obwohl kaum Licht durch die kleine Öffnung hinter ihr eindrang, stellte sie fest, daß sie einige Details ihrer Umgebung erkennen konnte, wenn auch nur vage. Sie hörte ein regelmäßiges Tropfen und sah kleine, glitzernde Rinnsale an den Wänden. Das Sonnenlicht mußte noch irgendwo anders durchsickern. Gab es oben eine weitere Öffnung? Jenseits eines sich verschwommen abzeichnenden Durchgangs schien ein schwaches Licht zu schimmern. Eine zweite Kammer.
Sie zwängte sich durch den niedrigen Korridor, und im nächsten Augenblick trat ihr Fuß ins Leere. Sie stürzte und fiel tiefer und tiefer, bis ein nasser Felsen ihren Fall unsanft bremste. Der Schmerz dröhnte wie eine Glocke in ihrem Schädel. Eine Weile lag sie benommen da und wartete, daß ihr Kopf wieder klar würde, daß die Lichtblitze vor ihren Augen aufhörten. Etwas flatterte über ihr und rauschte mit wildem Flügelschlagen davon.
Fledermäuse.
Das Pochen in ihrem Schädel wich allmählich einem dumpfen Schmerz, aber immer noch sah sie das Licht in psychedelischem Grün aufblitzen. Symptome einer Hornhautablösung, dachte sie mit Schrecken. Drohende Erblindung.
Langsam erhob sie sich, wobei sie sich mit einer Hand an der Höhlenwand abstützte. Doch es war kein nackter Fels, den sie berührte, es war eine schleimige, weiche Substanz. Sie stieß einen Schrei aus und fuhr zurück. Wieder erhob sich das Geflatter über ihr.
Sie hat sich bewegt. Die Wand hat sich bewegt.
Was sie an der Wand gefühlt hatte, war kalt, nicht wie das Fell einer zappelnden Fledermaus. Sie spürte noch die Feuchtigkeit an ihren Fingern. Sie schüttelte sich und begann ihre Hand an der Hose abzuwischen, als sie plötzlich das Leuchten sah. Es klebte an ihrer Haut und ließ die Umrisse ihrer Hand in der Dunkelheit aufscheinen. Verwundert blickte sie zur Höhlendecke auf und sah eine Unmenge von Lichtpunkten, so wie schwach leuchtende grüne Sterne am Nachthimmel. Aber diese Sterne bewegten sich, wogten in sanften Wellen hin und her.
Sie
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