Trügerische Ruhe
Wir finden, sie sollte wirklich hiersein. Der Junge hat nach ihr gefragt.«
Irgend etwas stimmt nicht, dachte Lincoln, während er den Flur entlang zu Noahs Zimmer ging. Claire würde nicht so viel Zeit vergehen lassen, ohne ihren Sohn zu besuchen oder zumindest anzurufen. Er war früher am Abend an ihrem Haus vorbeigefahren und hatte ihren Wagen nicht gesehen, so daß er angenommen hatte, sie sei im Krankenhaus.
Aber sie war den ganzen Tag nicht hiergewesen.
Er nickte dem State Trooper zu, der vor der Tür Wache hielt, und betrat Noahs Zimmer.
Die Nachttischlampe brannte, und in ihrem hellen Schein sah das Gesicht des Jungen blaß und erschöpft aus. Beim Geräusch der ins Schloß fallenden Tür sah er auf, und sofort trübte Enttäuschung seinen Blick. Der Zorn ist verflogen, dachte Lincoln. Der Unterschied war verblüffend. Noch vor sechsunddreißig Stunden war Noah jenseits aller Vernunft gewesen, und seine Raserei hatte in ihm solche Kräfte freigesetzt, daß zwei Mann nötig gewesen waren, um ihn zu überwältigen. Jetzt sah er nur noch wie ein müder kleiner Junge aus. Ein verängstigter Junge.
Seine Frage war nur ein schwaches Flüstern: »Wo ist meine Mom?«
»Ich weiß nicht, wo sie ist, mein Junge.«
»Rufen Sie sie an. Bitte, können Sie sie nicht anrufen?«
»Wir versuchen schon, sie zu erreichen.«
Der Junge blinzelte und blickte zur Decke hinauf. »Ich will ihr sagen, daß es mir leid tut. Ich will ihr sagen ...« Er blinzelte wieder, dann wandte er sich ab und murmelte kaum hörbar in sein Kopfkissen: »Ich will ihr die Wahrheit sagen.«
»Worüber?«
»Über das, was passiert ist. In dieser Nacht ...«
Lincoln schwieg. Er konnte Noah nicht dazu zwingen, dieses Geständnis zu machen, es mußte von selbst aus ihm herauskommen.
»Ich habe den Transporter genommen, weil ich eine Freundin nach Hause fahren mußte. Sie ist den ganzen Weg zu Fuß gekommen, um mich zu besuchen, und wir wollten warten, bis Mom zurück war, damit sie sie heimfahren konnte. Aber dann wurde es spät, und Mom ist nicht nach Hause gekommen. Und es hat richtig stark zu schneien angefangen ...«
»Also hast du das Mädchen selbst heimgefahren?«
»Es waren nur zwei Meilen. Es ist ja nicht so, als wäre ich noch nie Auto gefahren.«
»Und was ist da passiert? Auf der Fahrt?«
»Nichts. Es war nur eine schnelle Tour, einmal hin und zurück. Ich schwör’s.«
»Bist du über die Slocum Road gefahren?«
»Nein, Sir. Ich bin die ganze Zeit auf der Toddy Point Road geblieben. Ich habe sie an der Einfahrt rausgelassen, damit ihr Daddy mich nicht sehen konnte. Und dann bin ich gleich wieder heimgefahren.«
»Wann war das?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht so um zehn.«
Eine Stunde, nachdem der anonyme Zeuge Claires Transporter auf der Slocum Road hatte herumkurven sehen.
»Das stimmt nicht mit den Tatsachen überein, mein Sohn. Es erklärt nicht das Blut an der Stoßstange.«
»Ich weiß nicht, wie das Blut da hingekommen ist.«
»Du sagst nicht die ganze Wahrheit.«
»Ich sage die Wahrheit!« Der Junge drehte sich zu ihm um, und aus seiner Frustration wurde allmählich Zorn. Aber dieses Mal hatte sein Zorn irgendwie eine andere Qualität. Er war auf Vernunft gegründet.
»Wenn du die Wahrheit sagst«, meinte Lincoln, »dann wird das Mädchen deine Geschichte bestätigen. Wer ist sie?«
Noah wandte sich ab und starrte erneut an die Decke. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Ihr Vater würde sie umbringen. Darum.«
»Sie könnte mit einer simplen Aussage die ganze Sache klären.«
»Sie hat Angst vor ihm. Ich kann sie nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Du bist derjenige, der in Schwierigkeiten steckt, Noah.«
»Ich muß zuerst mit ihr reden. Ich muß ihr eine Chance geben –«
»Was zu tun? Ihre Geschichte mit deiner abzustimmen?« Sie sahen einander schweigend an. Lincoln wartete auf eine Antwort, und der Junge weigerte sich, ihm die Information zu geben.
Durch die geschlossene Tür konnte Lincoln gerade noch die Stimme aus dem Lautsprecher hören: »Dr. Elliot, bitte Anschluß sieben-eins-drei-drei anrufen. Dr. Elliot bitte ...«
Lincoln verließ Noahs Zimmer und ging zum Telefonieren ins Stationszimmer. Er wählte die 7133.
Anthony meldete sich im Labor. »Dr. Elliot?«
»Hier spricht Chief Kelly. Wie lange versuchen Sie schon, Dr. Elliot zu erreichen?«
»Den ganzen Nachmittag. Ich habe es über ihren Pager versucht, aber sie muß ihn ausgeschaltet haben. In ihrem Haus geht
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