Trügerische Ruhe
Frosch anzuschauen. Er lag auf dem Lehrerpult, ein schlaffer, formloser Kadaver. Zwar lebte er noch, wenn man der alten Horatio glauben durfte, aber es gab keinerlei äußere Anzeichen dafür. Noah verspürte mit einem Mal ein überwältigendes Mitleid mit diesem Frosch; er sah sich selbst ausgestreckt auf dem Pult liegen, mit offenen Augen und bei vollem Bewußtsein, aber ohne Kontrolle über seinen Körper. Panikattacken, die ziellos wie Feuerwerkskörper im Hirn umherschossen. Er fühlte sich selbst wie gelähmt, betäubt.
»So, jetzt sucht sich jeder einen Laborpartner«, sagte Mrs. Horatio. »Schiebt schnell eure Tische zusammen.«
Noah schluckte und warf einen Seitenblick auf Amelia. Sie nickte hilflos.
Er schob sein Pult neben ihres. Sie sprachen nicht miteinander; die Partnerschaft zwischen ihnen beruhte auf rein praktischen Erwägungen – aber was soll’s, dachte er, Hauptsache, ich komme ihr so näher.
Amelias Lippen zitterten. Er hätte sie so gerne getröstet, aber er wußte nicht, wie; so saß er einfach da und setzte in Ermangelung irgendwelcher Alternativen seine übliche gelangweilte Miene auf.
Sag ihr irgendwas Nettes, du Blödmann! Irgendwas, das ihr imponiert. Du kriegst vielleicht nie wieder so eine Gelegenheit!
»Der Frosch sieht ganz schön tot aus«, sagte er.
Sie schüttelte sich.
Mrs. Horatio kam mit dem Glas voller Frösche den Mittelgang entlang. Sie blieb neben Noah und Amelia stehen.
»Nehmt einen. Jedes Team bearbeitet einen Frosch.«
Das Blut wich aus Amelias Gesicht. Noah war gefragt.
Er steckte die Hand in das Glas und griff sich einen der zappelnden Frösche. Mrs. Horatio knallte eine Nadel auf das Pult.
»Auf geht’s, ihr beiden«, sagte sie und ging weiter zum nächsten Team.
Noah betrachtete den Frosch in seiner Hand. Der Frosch glotzte mit hervorquellenden Augen zurück. Er nahm die Nadel, und dann sah er wieder den Frosch an. Dessen Augen bettelten ihn an: Laß mich leben, laß mich leben! Er legte die Nadel hin, während ihn die Übelkeit erneut überkam, diesmal mit voller Wucht. Hoffnungsvoll blickte er Amelia an. »Darf ich dir den Vortritt lassen?«
»Ich kann nicht«, flüsterte sie. » Bitte, zwing mich nicht!«
Eines der Mädchen kreischte. Noah wandte sich um und sah, wie Lydia Lipman von ihrem Stuhl aufsprang und entsetzt vor ihrem Laborpartner zurückwich. Es war Taylor Darnell. Ein dumpfes tock, tock, tock war zu hören, als Taylor mit seiner Nadel auf den Frosch einstach. Blut spritzte auf sein Pult.
»Taylor! Taylor, hör sofort auf!« rief Mrs. Horatio.
Er stach immer wieder zu. Tock, tock. Der Frosch glich einem grünen Hamburger. »Vier plus«, murmelte er. »Die ganze Woche habe ich für diese Arbeit gebüffelt. Sie können mir keine Vier plus geben!«
»Taylor, du gehst jetzt zur Rektorin!«
Er stach nur noch wütender auf den Frosch ein. »Sie können mir keine miese Vier plus geben!«
Sie packte ihn am Handgelenk und versuchte, ihm die Nadel wegzunehmen. »Zu Miss Cornwallis, und zwar sofort! «
Taylor riß sich los, wobei er den toten Frosch vom Pult fegte. Er fiel in Amelias Schoß. Mit einem spitzen Schrei sprang sie auf, und der kleine Körper klatschte auf den Fußboden.
»Taylor!« schrie Mrs.Horatio. Wieder griff sie nach seinem Handgelenk, und diesmal zwang sie ihn, die Nadel fallen zu lassen. »Verlaß augenblicklich diesen Raum!«
»Leck mich am Arsch!«
»Was hast du gesagt?«
Er stand auf und stieß seinen Stuhl um. »Leck mich am Arsch!«
»Du bist ab sofort vom Unterricht ausgeschlossen! Die ganze Woche schon hast du dich flegelhaft und respektlos benommen. Jetzt reicht’s, Freundchen! Ich will dich hier nicht mehr sehen!«
Taylor versetzte dem Stuhl einen Tritt, so daß er ein Stück über den Gang polterte und gegen ein Pult krachte. Sie packte ihn am Hemdkragen und versuchte, ihn zur Tür zu zerren, aber er konnte sich befreien und stieß sie heftig von sich. Sie fiel rücklings gegen ein Pult und warf dabei das Glas um. Es zerbarst am Boden, und die befreiten Frösche ergossen sich wie ein pulsierender grüner Teppich über den Boden des Klassenzimmers.
Mrs. Horatio erhob sich langsam. Ihre Augen blitzten vor Rage. »Ich werde dich von der Schule verweisen lassen!«
Taylor griff in seinen Rucksack.
Mrs. Horatios Augen hefteten sich starr auf die Waffe in Taylors Hand. »Leg sie weg«, sagte sie. »Taylor, leg die Pistole weg!«
Die Explosion schien sie wie ein Faustschlag in die Magengrube zu treffen. Sie
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