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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hielt ein brennendes Streichholz in der Hand. Er warf ihr einen Blick zu und schüttelte es schnell aus. »Mehr Kerzen konnte ich nicht finden«, sagte er.
    Schweigend ging sie auf den Küchentisch zu. Tränen trübten plötzlich ihren Blick, als sie die Schichttorte sah, die er aus der Tiefkühltruhe geholt hatte. Auf elf Kerzen tanzten schon die Flammen.
    Noah zündete noch ein Streichholz an und hielt es an die zwölfte Kerze. »Alles Gute zum Geburtstag, Dad«, sagte er leise.
    Alles Gute zum Geburtstag, Peter, dachte sie und blinzelte ihre Tränen weg.
    Und zusammen mit ihrem Sohn blies sie die Kerzen aus.

4
    Mrs.Horatio schickte sich an, einem Frosch das Rückenmark zu durchtrennen.
    »Wenn man erst einmal den Hirnstamm durchbohrt hat, spüren sie überhaupt nichts mehr«, erklärte sie. »Die Nadel dringt an der Schädelbasis ein, und dann muß man sie ein wenig hin und her bewegen, um all die Nervenverbindungen zum Gehirn zu zerstören. Dadurch wird das Tier gelähmt; es ist keinerlei bewußte Bewegung mehr möglich, aber die Rückenmarksreflexe bleiben intakt, so daß wir sie studieren können.«
    Sie steckte die Hand in das Glas und bekam einen zappelnden Frosch zu fassen. Mit der anderen Hand griff sie nach der Nadel. Sie war riesengroß.
    Obwohl sich schon die erste Welle von Übelkeit in seinem Magen bemerkbar machte, saß Noah vollkommen still an seinem Pult in der dritten Reihe. Er gab sich Mühe, die Beine weiterhin lässig ausgestreckt zu lassen und eine gelangweilte Miene aufzusetzen.
    Er konnte hören, wie die anderen Schüler auf ihren Stühlen hin und her rutschten, besonders die Mädchen. Zu seiner Rechten hielt sich eine entsetzte Amelia Reid die Hand vor den Mund.
    Er ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen und gab im stillen sein Urteil über jeden einzelnen Schüler ab. Pfeife. Sportskanone. Geschniegelter Arschkriecher. Bis auf Amelia Reid war niemand darunter, mit dem er sich gerne abgegeben hätte. Es war auch keiner von ihnen daran interessiert, sich mit ihm abzugeben, aber das war in Ordnung so. Seiner Mom mochte es vielleicht gefallen in dieser Stadt, aber er hatte nicht vor, ewig zu bleiben.
    Meinen Abschluß machen, und dann nix wie weg, nix wie weg, nix wie weg.
    »Taylor, hör auf zu zappeln und paß endlich auf«, sagte Mrs. Horatio.
    Noah warf einen Blick zur Seite und sah, wie Taylor Darnell sich mit beiden Händen an seinem Pult festhielt und die Klassenarbeit anstierte, die er an diesem Morgen zurückbekommen hatte. Mrs. Horatio hatte mit rotem Filzstift ein riesiges »4+« darauf gemalt. Die Arbeit war bedeckt mit Taylors zornig hingeworfenen schwarzen Tintenstrichen. Direkt neben die beschämende Note hatte er geschrieben: »Stirb, Mrs. Huratio!«
    »Noah, hörst du eigentlich zu?«
    Noah errötete und wandte den Blick wieder nach vorne.
    Mrs. Horatio hielt den Frosch hoch, so daß alle ihn sehen konnten. Es sah tatsächlich so aus, als ob ihr die ganze Sache Vergnügen bereitete, als sie die Spitze der Nadel am Hinterkopf des Frosches ansetzte. Mit leuchtenden Augen und eifrig gespitzten Lippen stach sie die Nadel in den Hirnstamm. Die Hinterbeine des Frosches schlugen wild aus, und die Füße mit ihren Schwimmhäuten ruderten wie im Schmerz.
    Amelia stieß einen wimmernden Laut aus und ließ den Kopf sinken, und ihr blondes Haar ergoß sich über das Pult. Überall im Klassenzimmer hörte man jetzt Stühle quietschen. Irgend jemand rief mit verzweifelter Stimme: »Mrs. Horatio, darf ich bitte austreten?«
    »... müßt ihr die Nadel kräftig hin- und herbewegen. Macht euch nichts draus, daß die Füße so zappeln. Es ist ein reiner Reflex. Das Rückgrat sendet diese Impulse aus.«
    »Mrs. Horatio, ich muß zur Toilette ...«
    »Gleich. Zuerst müßt ihr noch sehen, wie ich das hier mache.« Sie drehte die Nadel, und ein leises Knacken war zu hören.
    Noah dachte, er müßte kotzen. Immer noch bemüht, ausgesprochen cool und unbeteiligt zu wirken, wandte er sich ab, die Fäuste unter dem Tisch geballt. Nicht kotzen, nicht kotzen, nicht kotzen. Er konzentrierte sich auf Amelias blondes Haar, das er oft bewundert hatte. Rapunzelhaar. Er starrte es an und dachte, wie gerne er es streicheln würde. Er hatte nie gewagt, Amelia auch nur anzusprechen. Sie war wie ein Mädchen in einer goldenen Glaskugel, unerreichbar für alle gewöhnlichen Sterblichen.
    »So«, sagte Mrs. Horatio. »Das ist schon alles. Seht ihr es? Völlige Paralyse.«
    Noah zwang sich, wieder den

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