Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
taumelte zurück, hielt sich den Bauch, dann sackte sie mit ungläubigem Blick in sich zusammen. Die Zeit schien stillzustehen, wie erstarrt in einem unendlichen Augenblick. Noah starrte entsetzt auf den leuchtendroten Blutstrom, der auf seine Schuhe zufloß. Dann zerriß der Schreckensschrei eines Mädchens die Stille. Im nächsten Moment brach das Chaos um ihn herum aus. Stühle krachten zu Boden; er sah ein fliehendes Mädchen stolpern und mit den Knien in die Glassplitter fallen. Die Luft schien von Blut und Panik getrübt.
    Ein zweiter Schuß krachte.
    Noahs Blick erfaßte wie in einer Zeitlupenaufnahme das Durcheinander fliehender Leiber, und er sah Vernon Hobbs, wie er stolperte und gegen ein Pult fiel. Das Klassenzimmer war eine einzige verschwommene Masse aus wehenden Haaren und strampelnden Beinen. Aber Noah selbst schien sich nicht vom Fleck bewegen zu können. Es war wie in einem Alptraum – als ob seine Beine in einem tiefen Sumpf steckten. Sein Gehirn befahl immer wieder: Lauf! Lauf!, doch sein Körper verweigerte den Gehorsam.
    In dem tobenden Chaos fand sein Blick Taylor Darnell, und zu seinem Entsetzen erkannte er, daß die Pistole jetzt auf Amelias Kopf gerichtet war.
    Nein, dachte er. Nein!
    Taylor drückte ab.
    Wie durch einen Zaubertrick erschien ein Blutfleck auf Amelias Schläfe, doch obwohl das Blut schon an ihrer Wange herabfloß, blieb sie stehen. Mit ihren weit aufgerissenen Augen starrte sie wie ein todgeweihtes Tier in die Mündung der Pistole. »Bitte nicht, Taylor«, sagte sie schwach. »Bitte schieß nicht ...«
    Taylor hob die Waffe wieder an.
    Urplötzlich löste sich die alptraumhafte Lähmung in Noahs Beinen, und sein Körper bewegte sich wie von einem eigenen Willen getrieben. Sein Gehirn registrierte eine Unzahl von Details gleichzeitig. Er sah, wie Taylor den Kopf hob und sein Gesicht sich zu ihm hindrehte. Er sah, wie die Pistole langsam einen Bogen beschrieb. Er sah den überraschten Ausdruck in Taylors Augen, als Noah auf ihn zustürzte.
    Eine dritte Kugel löste sich aus dem Lauf.
    »Ich habe eben festgestellt, daß meine Patientin eingeliefert wurde. Warum hat mich niemand angerufen?«
    Die Stationssekretärin sah von ihrem Pult auf und schien zusammenzuzucken, als sie sah, daß die Frage von Claire kam.
    »Äh ... welche Patientin, Dr. Elliot?«
    »Katie Youmans. Ich habe ihren Namen an einer der Türen gesehen, aber sie war nicht in dem Zimmer. Ich kann ihr Krankenblatt nicht im Regal finden.«
    »Sie ist erst vor ein paar Stunden eingeliefert worden, über die Notaufnahme. Sie ist gerade beim Röntgen.«
    »Niemand hat mir Bescheid gesagt.«
    Der Blick der Sekretärin richtete sich wieder auf das Pult.
    »Dr. DelRay hat als behandelnder Arzt übernommen.«
    Claire nahm diese unangenehme Nachricht schweigend zur Kenntnis. Es war nicht unüblich, daß Patienten den Arzt wechselten, manchmal aus ganz banalen Gründen. Zwei von Adam DelRays Patienten waren auch zu Claires Praxis übergewechselt. Aber sie war überrascht zu hören, daß gerade diese Patientin sich entschlossen hatte, sich ihrer Obhut zu entziehen. Sechzehn Jahre alt und ein wenig zurückgeblieben, hatte Katie Youmans bei ihrem Vater gelebt, als sie wegen einer Blasenentzündung in Claires Praxis geschickt worden war. Claire hatte sofort die ringförmigen Blutergüsse an den Handgelenken des Mädchens bemerkt. Fünfundvierzig Minuten behutsamer Befragung und eine Beckenuntersuchung hatten Claires Verdacht bestätigt. Katie wurde aus dem Haus ihres Vaters, wo sie dem Mißbrauch ausgesetzt gewesen war, entfernt und in einer Pflegefamilie untergebracht.
    Seitdem war es mit dem Mädchen aufwärtsgegangen. Ihre Verletzungen, sowohl die körperlichen als auch die seelischen, heilten allmählich. Claire hatte Katie als einen ihrer persönlichen Triumphe betrachtet. Warum sollte das Mädchen den Arzt wechseln?
    Sie fand Katie in der Röntgenabteilung. Durch das kleine Fenster sah Claire das Mädchen auf dem Untersuchungstisch liegen, mit einem Bein in der Röntgenröhre.
    »Darf ich fragen, wie die Einlieferungsdiagnose lautet?« fragte Claire den Röntgenassistenten.
    »Erysipel am rechten Fuß, hat man mir gesagt. Ihr Krankenblatt ist da drüben, wenn Sie reinschauen wollen.«
    Claire nahm die Akte zur Hand und fand den Einlieferungsvermerk. Er war von Adam DelRay um sieben Uhr morgens diktiert worden.
    Sechzehnjährige Weiße; ist vor zwei Tagen in einen Reißnagel getreten. Wachte heute morgen mit Fieber,

Weitere Kostenlose Bücher