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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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punktierte die Vene mit der Infusionsnadel und führte die Kanüle ein. Mit einer Spritze entnahm sie dann einige Röhrchen voll Blut und schloß die Kanüle anschließend wieder an den Tropf an. »Noch eine Flasche Ringer-Laktat-Lösung, im Schuß!« rief sie. »Systolischer Druck sechzig, Puls kaum fühlbar!«
    Der Chirurg erklärte: »Der Bauch ist aufgebläht. Ich glaube, er ist voller Blut. Legen Sie die Instrumente parat und machen Sie den Absauger klar!« Er sah McNally an. »Sie assistieren.«
    »Aber sie muß in den OP –«
    »Keine Zeit. Wir müssen rausfinden, wo das Blut herkommt.«
    »Ich habe ihren Blutdruck verloren!« schrie eine Schwester.
    Der erste Schnitt war schnell und brutal; er schlitzte den Bauch der Länge nach auf, so daß die Haut zu beiden Seiten zurückwich. Mit einem zweiten, tieferen Schnitt durchtrennte er die gelbliche Schicht aus subkutanem Fett und das Bauchfell.
    Blut schoß heraus und spritzte auf den Boden.
    »Ich kann nicht sehen, woher es kommt!«
    Durch das Absaugen konnte das Blut nicht schnell genug beseitigt werden. Verzweifelt stopfte McNally zwei sterile Handtücher in die Bauchhöhle und zog sie tropfnaß wieder heraus.
    »Okay, ich glaube, ich seh’s jetzt. Die Kugel hat die Aorta geritzt –«
    »Mein Gott, es schießt nur so raus!«
    Ein Assistent rief durch die Tür: »Es sind noch zwei angekommen! Sie fahren sie jetzt rein!«
    McNally warf einen Blick über den Tisch hinweg auf Claire, und sie sah die Panik in seinen Augen. »Sie sind dran!« sagte er barsch. »Gehen Sie, Claire!«
    Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie aus dem Schockraum kam und die erste Bahre sah, die in eines der Behandlungszimmer gerollt wurde. Der Patient war ein schluchzender rothaariger Junge; sein Hemd war schon aufgeschnitten, und durch einen Verband an der Schulter sickerte Blut. Jetzt wurde eine zweite Bahre hereingebracht – mit einem blonden Mädchen, dessen halbes Gesicht mit Blut verschmiert war.
    Kinder, dachte sie. Das sind ja noch Kinder. Mein Gott, was ist da passiert?
    Sie ging zuerst zu dem Mädchen. Es weinte, konnte aber alle Extremitäten noch bewegen. Beim Anblick des ganzen Bluts im Gesicht des Mädchens war Claire fast in Panik geraten: Schußverletzung am Kopf, hatte sie gedacht. Sie zwang sich, innezuhalten, das Mädchen bei der Hand zu nehmen und sie ruhig nach ihrem Namen zu fragen, obwohl ihr Herz dabei raste. Es bedurfte nur einiger weniger Fragen, um zu bestätigen, daß Amelia Reid voll orientiert und bei klarem Bewußtsein war. Die Verletzung war nur eine oberflächliche Hautabschürfung an der Schläfe, die Claire rasch reinigte und verband.
    Sie wandte sich dem Jungen zu, sah aber, daß der Kinderarzt sich bereits um ihn kümmerte.
    »Kommen noch mehr?« fragte sie den Assistenten.
    »Es sind keine mehr unterwegs. Vielleicht sind noch welche am Tatort ...«
    Ein zweiter Chirurg kam an. Kaum war er durch die Tür, rief er schon: »Hier bin ich! Wo werde ich gebraucht?«
    »Schockraum!« sagte Claire. »Dr. McNally braucht Ablösung!«
    Er wollte gerade die Tür auf stoßen, als eine Schwester herauskam und beinahe in ihn hineinrannte.
    »Haben wir schon das Null-Negativ-Blut für Horatio?« rief sie.
    Horatio? Claire hatte die Patientin unter all den Klebstreifen nicht erkannt, aber der Name war ihr ein Begriff: Dorothy Horatio.
    Die Biologielehrerin meines Sohnes. Sie sah auf die Uhr: Es war halb zwölf. Die dritte Stunde. Noah sollte Biologie haben – bei Mrs. Horatio.
    Ein weiterer Arzt kam an, ein weiteres Paar Hände – der Geburtshelfer von Two Hills. Sie sah sich ein letztes Mal in dem Raum um und stellte fest, daß die Situation unter Kontrolle war.
    Sie traf die einzige Entscheidung, die eine zutiefst besorgte Mutter treffen konnte.
    Sie lief hinaus zu ihrem Wagen.
    Die zwanzig Meilen Fahrt waren eine Folge verschwommener Eindrücke von herbstlichen Feldern, aufsteigenden Nebelfetzen, Kiefernwäldchen und hier und da einem Farmgebäude mit windschiefer Veranda. Sie war diese Landstraße in den letzten acht Monaten jeden Tag gefahren, aber noch nie in diesem Tempo, nie mit derartig zitternden Händen und solch beklommenem Herzen. Sie nahm die letzte Steigung mit durchgedrücktem Gaspedal, und ihr Subaru schoß an dem vertrauten Schild vorbei: Sie verlassen jetzt Two Hills. Kommen Sie bald wieder! Und dann, kaum hundert Meter weiter, ein zweites Schild, kleiner und mit abblätternder Farbe: WILLKOMMEN IN TRANQUILITY TOR ZUM LOCUST LAKE

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