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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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EINWOHNER: 910
    Sie bog in die School Road ein und sah die blitzenden Lichter von einem halben Dutzend Einsatzfahrzeugen. Streifenwagen waren kreuz und quer um den Eingang des roten Ziegelgebäudes geparkt, dazu zwei Feuerwehrautos – ein kompletter Katastropheneinsatz.
    Claire ließ ihren Wagen stehen und lief auf die Gruppe von fassungslos dreinschauenden Schülern und Lehrern zu, die sich auf dem Rasen vor dem Schulgebäude hinter einem Gewirr aus Absperrband versammelt hatten. Sie blickte in die Gesichter, aber Noah war nicht dabei.
    Ein Polizist aus Two Hills hielt sie am Eingang zurück. »Niemand darf das Gebäude betreten.«
    »Aber ich muß da rein!«
    »Nur Angehörige der Einsatzkräfte.«
    Sie atmete kurz durch. »Ich bin Dr. Elliot«, sagte sie mit festerer Stimme. »Ich bin Ärztin in Tranquility.«
    Er ließ sie durch.
    Das High-School-Gebäude war fast hundert Jahre alt, und der Geruch, der ihr entgegenschlug, war ein muffiges Gemisch aus Schülerschweiß und dem Staub, den Tausende von Füßen im Treppenhaus aufgewirbelt hatten. Sie lief die Treppe zum ersten Stock empor.
    Die Tür des Biologiezimmers war ebenfalls mit mehreren Streifen Polizeiband versperrt. Dahinter erblickte sie umgestoßene Stühle, Glasscherben und verstreute Papiere. Frösche hüpften in den Trümmern umher.
    Und sie sah Blut – Blut, das in gallertartigen Lachen auf dem Fußboden gerann.
    »Mom?«
    Ihr Herz machte einen Satz, als sie die Stimme hörte. Sie wirbelte herum und sah ihren Sohn am anderen Ende des Korridors stehen. Im Dämmerlicht des langen Flurs erschien er ihr erschreckend klein; sein blutverschmiertes Gesicht war bleich und schmal.
    Sie lief auf ihn zu und schlang ihre Arme um den steifen Körper, zog ihn an sich und zwang ihn förmlich in eine Umarmung. Sie spürte, wie sich zuerst seine Schultern entspannten, dann fiel sein Kopf auf ihre Schulter, und er weinte. Kein Laut war zu hören; sie fühlte nur das Beben seiner Brust und die warmen Tränen, die ihr über den Hals liefen. Seine Schultern mochten schon so breit wie die eines Mannes sein, aber es war ein Kind, das sich jetzt an sie klammerte, es war der Schmerz eines Kindes, der sich in seinen Tränen ausdrückte.
    »Bist du verletzt?« fragte sie. »Noah, du blutest. Bist du verletzt? «
    »Er ist unversehrt, Claire. Das ist nicht sein Blut. Es ist das der Lehrerin.«
    Sie hob den Kopf und sah Lincoln Kelly im Korridor stehen. Seine düstere Miene spiegelte die schrecklichen Ereignisse des Tages wider. »Noah und ich haben gerade darüber gesprochen, was genau passiert ist. Ich wollte Sie eben anrufen, Claire.«
    »Ich war im Krankenhaus. Ich habe gehört, es hätte eine Schießerei gegeben.«
    »Ihr Sohn hat dem Jungen die Waffe entrissen«, sagte Lincoln. »Es war eine verrückte Tat. Eine mutige Tat. Er hat wahrscheinlich ein paar Leuten das Leben gerettet.« Lincolns Blick fiel auf Noah, und leise fügte er hinzu: »Sie sollten stolz auf ihn sein.«
    »Ich war nicht mutig«, platzte Noah heraus. Er löste sich von Claire und wischte sich verschämt die Augen. »Ich hatte Angst. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich wußte nicht, was ich tat ...«
    »Aber du hast es getan, Noah.« Lincoln legte die Hand auf Noahs Schulter. Es war ein Zeichen der Anerkennung unter Männern, schroff und unsentimental. Noah schien diese einfache Berührung Kraft zu verleihen. Eine Mutter, dachte Claire, kann ihren Sohn nicht zum Ritter schlagen. Das muß ein anderer Mann tun.
    Langsam richtete Noah sich auf. Endlich hatte er seine Tränen unter Kontrolle. »Ist Amelia okay?« fragte er sie. »Sie haben sie im Krankenwagen weggebracht.«
    »Es geht ihr gut. Bloß ein Kratzer an der Schläfe. Ich denke, der Junge wird es auch gut überstehen.«
    »Und ... Mrs. Horatio?«
    Sie schüttelte den Kopf. Leise sagte sie: »Ich weiß es nicht.«
    Er holte tief Luft und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen.
    »Ich – ich muß mir das Gesicht waschen gehen –«
    »Tu das«, sagte Lincoln sanft. »Laß dir Zeit, Noah. Deine Mom wartet auf dich.«
    Claire sah ihrem Sohn nach, als er den Flur entlangging. Als er an der Tür des Biologiezimmers vorbeikam, wurde er langsamer; sein Blick wurde unwillkürlich von der offenen Tür angezogen. Einige Augenblicke lang stand er da, wie hypnotisiert von dem schrecklichen Anblick hinter dem Absperrband. Dann riß er sich abrupt los und verschwand in der Jungentoilette.
    »Wer war es?« fragte Claire an Lincoln

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