Trügerische Ruhe
gewandt. »Wer hat die Waffe in die Schule gebracht?«
»Es war Taylor Darnell.«
Sie starrte ihn an. »O mein Gott! Er ist mein Patient.«
»Das hat uns sein Vater auch gesagt. Paul Darnell meint, man könne den Jungen nicht dafür verantwortlich machen. Er soll hyperaktiv sein und seine spontanen Regungen nicht unter Kontrolle haben. Stimmt das?«
»Ein hyperkinetisches Syndrom führt nicht zu gewalttätigem Verhalten. Und Taylor leidet ohnehin nicht darunter. Aber ich kann keine Kommentare zu diesem Fall abgeben. Ich verletze sonst die Schweigepflicht.«
»Nun ja, irgendwas kann ja mit dem Jungen nicht stimmen. Wenn Sie seine Ärztin sind, sollten Sie vielleicht mal einen Blick auf ihn werfen, bevor er ins Jugendgefängnis kommt.«
»Wo ist er jetzt?«
»Wir halten ihn im Büro der Rektorin unter Bewachung.«
Lincoln machte eine kurze Pause. »Nur noch eine Warnung, Claire. Kommen Sie ihm nicht zu nahe.«
5
Taylor Darnell saß im Büro der Rektorin, mit Handschellen an den Stuhl gefesselt, und trat in einem fort mit dem Fuß gegen den Schreibtisch. Bam! Bam! Bam! Er blickte nicht auf, als Claire und Lincoln den Raum betraten, ja er schien ihre Gegenwart nicht einmal zu bemerken. Zwei Cops von der Polizei des Staates Maine waren bei ihm. Sie sahen Lincoln an und schüttelten die Köpfe. Es war nicht schwer, ihre Gedanken zu erraten: Der da ist ja wohl völlig durchgeknallt.
»Wir hatten gerade einen Anruf vom Krankenhaus«, sagte einer der beiden zu Lincoln. »Die Lehrerin ist tot.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Nachdem Claire und Lincoln die Nachricht schweigend zur Kenntnis genommen hatten, fragte sie leise: »Wo ist Taylors Mutter?«
»Sie ist noch auf dem Weg von Portland hierher. Sie hatte dort geschäftlich zu tun.«
»Und Mr. Darnell?«
»Ich glaube, er versucht, einen Anwalt aufzutreiben. Sie werden einen brauchen.«
Taylor trat weiter unermüdlich gegen den Schreibtisch, in immer schnellerer Folge.
Claire stellte ihre Arzttasche auf einen Stuhl und ging auf den Jungen zu.
»Du erinnerst dich doch an mich, Taylor? Ich bin Dr. Elliot.« Keine Antwort – nur diese wütenden Tritte. Irgend etwas war hier ernsthaft nicht in Ordnung. Was sie hier sah, war mehr als jugendliche Rage. Es schien eine Art Psychose zu sein, hervorgerufen durch Drogen.
Ohne Vorwarnung hob Taylor plötzlich den Blick und starrte sie mit aggressiver Intensität an. Seine Pupillen weiteten sich, bis aus den Regenbogenhäuten ebenholzfarbig schimmernde Flächen geworden waren. Er schürzte die Lippen, so daß die Eckzähne hervorblitzten, und aus seiner Kehle drang ein tierhaftes Geräusch, halb Zischen, halb Grollen.
Es geschah so schnell, daß sie keine Zeit hatte zu reagieren. Er sprang auf, wobei er den Stuhl mitriß, und warf sich auf sie.
Der Aufprall seines Körpers warf sie rücklings zu Boden. Seine Zähne senkten sich in den Stoff ihrer Jacke und zerrissen ihn, und eine weiße Wolke aus Gänsedaunen und Federn wurde aufgewirbelt. Sie sah für einen Augenblick die aufgeregten Gesichter der beiden Cops, die verzweifelt versuchten, Taylor von ihr loszureißen. Schließlich schafften sie es, den immer noch um sich schlagenden Jungen von ihr wegzuzerren.
Lincoln packte sie am Arm und zog sie wieder auf die Beine. »Claire – mein Gott –«
»Alles in Ordnung«, sagte sie, durch den Daunenwirbel hustend. »Wirklich, mir ist nichts passiert.«
Einer der Cops schrie auf. »Er hat mich gebissen! Sehen Sie, ich blute!«
Obwohl er an den Stuhl gefesselt war, hörte der Junge nicht auf, sich zu sträuben und zu wehren. »Laßt mich gehen!« kreischte er. »Ich bring euch alle um, wenn ihr mich nicht gehen laßt!«
»Man sollte ihn in einen verdammten Käfig sperren!«
»Nein. Nein, wir haben hier ein ernsthaftes Problem«, stellte Claire fest. »Mir scheint, es handelt sich um eine durch Drogen verursachte Psychose. PCP oder Amphetamine.« Sie wandte sich an Lincoln. »Ich möchte, daß der Junge ins Krankenhaus gebracht wird. Sofort.«
»Zuviel Bewegung«, sagte Dr. Chapman, der Radiologe. »So können wir keine allzu genaue Bestimmung kriegen.«
Claire beugte sich vor und schaute konzentriert auf den Computerbildschirm, wo jetzt der erste Querschnitt von Taylor Darnells Gehirn erschien. Jedes Bild war aus Pixeln zusammengesetzt, die von Tausenden feinster Röntgenstrahlen gebildet wurden. Die Strahlen trafen aus verschiedenen Winkeln auf die Bildebene; sie konnten zwischen flüssigem und festem Material
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