Trügerische Ruhe
Wanda?«
Der Mann drehte sich zu ihr um. »Ich bin Taylors Vater.«
Persönliche Krisen bringen oft die schlechtesten Eigenschaften eines Menschen zum Vorschein, aber Paul Darnell war offenbar zu keiner Zeit besonders liebenswert. Als Teilhaber der größten Steuerberatungsfirmen von Two Hills war er weitaus eleganter gekleidet als seine Frau, die dagegen in ihrem schlechtsitzenden Kostüm noch bedeutungsloser wirkte, als sie es ohnehin schon tat. Die kurze Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Ex-Eheleuten, deren Zeugin Claire geworden war, hatte ihr deutlich gemacht, wie es in der Ehe zugegangen sein mußte: Paul war der Aggressor, der ständig Forderungen stellte und sich beklagte; Wanda blieb nur, zu beschwichtigen und sich zurückzunehmen.
»Was höre ich da? Mein Sohn soll illegale Drogen genommen haben?«
»Ich versuche, einen Grund zu finden für das, was heute geschehen ist, Mr. Darnell. Ich hatte gerade Ihre Frau gefragt –«
»Taylor hat keine Drogen genommen. Nicht, seit Sie das Ritalin abgesetzt haben.« Er machte eine Pause. »Und mit dem Ritalin ging’s ihm gut. Ich habe nie verstanden, warum er es nicht weiter bekommen hat.«
»Es ist schon zwei Monate her, daß ich es abgesetzt habe. Diese Persönlichkeitsveränderung ist jüngeren Datums.«
»Vor zwei Monaten ging es ihm gut.«
»Nein, das stimmt nicht. Er war müde und teilnahmslos.
Und diese HKS-Diagnose ist nie wirklich bestätigt worden. Das ist nicht das gleiche wie eine Bluthochdruck-Diagnose, wofür es festgelegte Parameter gibt.«
»Für Dr. Pomeroy stand die Diagnose fest.«
»HKS ist zu einer Schublade geworden, in die man alle möglichen Arten von kindlichem Fehlverhalten steckt. Wenn ein Schüler Lernschwierigkeiten hat oder etwas Dummes anstellt, wollen die Eltern einen Grund dafür wissen. Ich habe mich Dr.Pomeroys Diagnose nicht angeschlossen. Im Zweifelsfall verschreibe ich einem Kind lieber keine Pillen.«
»Und Sie sehen ja, was passiert ist. Er ist völlig außer Kontrolle. Und das schon seit Wochen.«
»Woher willst du das wissen, Paul?« fragte Wanda. »Wie lange ist es her, seit du zuletzt Zeit mit deinem eigenen Sohn verbracht hast?«
Paul warf seiner Exfrau einen so haßerfüllten Blick zu, daß Wanda erschrocken zurückwich. »Du bist doch diejenige, die sich um ihn kümmern soll«, sagte er. »Ich wußte ja, daß du nicht mit ihm zurechtkommen würdest. Du hast wie üblich alles vermasselt, und jetzt wird unser Sohn im Gefängnis landen!«
»Wenigstens habe ich ihm nicht die Pistole besorgt«, sagte sie leise.
»Was?«
»Das war deine Pistole, die er in die Schule mitgenommen hat. Hast du sie denn noch nicht vermißt?«
Er starrte sie an. »Dieses kleine Arschloch! Wie hat er –«
»Das bringt doch nichts!« fuhr Claire dazwischen. »Wir müssen an Taylor denken. Daran, wie sein Verhalten zu erklären ist.«
Paul wandte sich seiner geschiedenen Frau zu. »Ich habe Adam DelRay gebeten, sich seiner anzunehmen. Er ist gerade oben und sieht sich Taylor an.«
Claire fehlten die Worte angesichts dieser unverblümten Mitteilung. Deshalb hatte also DelRay die Anweisung geschrieben: Er war jetzt der behandelnde Arzt. Man hatte ihr gerade den Fall entzogen.
»Aber Dr. Elliot ist seine Ärztin!« protestierte Wanda.
»Ich kenne Adam, und ich vertraue seinem Urteil.«
Das heißt wohl, daß er meinem mißtraut?
»Ich kann Adam DelRay noch nicht einmal leiden«, sagte Wanda. »Er ist dein Freund, nicht meiner.«
»Du mußt ihn ja nicht mögen.«
»Das muß ich wohl, wenn er meinen Sohn behandelt.«
Pauls Lachen war schrill. »Danach suchst du also einen Arzt aus, Wanda? Nimmst den mit dem größten Kuschelfaktor, was?«
»Ich tue, was am besten für Taylor ist!«
»Und deshalb ist er also hier gelandet.«
Jetzt endlich riß Claire der Geduldsfaden. »Mr. Darnell«, sagte sie, »das ist nicht der Moment, um auf Ihrer Frau herumzuhacken!«
Er drehte sich zu Claire um, und seine Verachtung bezog sich offensichtlich auch auf sie. »Exfrau«, berichtigte er. Dann wandte er sich ab und verließ die Kapelle.
Sie fand Adam DelRay im Stationszimmer; er saß am Schreibtisch und schrieb etwas in Taylors Krankenakte. Obwohl es schon spät am Abend war, wirkte sein weißer Kittel noch wie frisch gestärkt, und Claire fühlte sich im Vergleich dazu ganz zerknittert. Jegliche Verlegenheit, die er angesichts der Krise im Fall Katie Youmans früher am Tag empfunden haben mochte, war praktischerweise völlig
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