Trügerische Ruhe
sich die Rückenwirbel deutlich unter der Haut ab. Schnell fand sie die Stelle zwischen dem vierten und fünften Dornfortsatz und tupfte sie zuerst mit einem Antiseptikum, dann mit Alkohol ab. Sie zog sich sterile Handschuhe über und nahm die Spritze mit dem Lokalanästhetikum zur Hand.
»Ich spritze jetzt das Xylocain . Er wird das nicht mögen.«
Claire durchstieß die Haut mit einer Fünfundzwanziger-Nadel und injizierte behutsam das Betäubungsmittel. Sobald er etwas spürte, begann Taylor wütend zu schreien. Claire sah, wie eine der Schwestern angstvoll aufblickte. Keiner von ihnen hatte es jemals mit so etwas zu tun gehabt, und die Aggression, die der ganze Körper des Jungen ausstrahlte, ängstigte sie alle. Claire griff nach der Spinalpunktionsnadel. Sie war acht Zentimeter lang und aus schimmerndem Stahl. Das Ende war offen, damit die Rückenmarksflüssigkeit herausfließen konnte.
»Halten Sie ihn fest. Ich mache jetzt die Punktion.«
Sie durchstach die Haut. Das Xylocain hatte die Stelle betäubt, so daß er keinen Schmerz empfand – noch nicht. Sie schob die Nadel immer tiefer hinein, wobei sie genau zwischen die beiden Dornfortsätze zielte, in Richtung auf die Dura mater des Rückenmarks. Sie spürte einen leichten Widerstand, und dann ein deutliches Knacken, als die Nadel die schützende Dura mater durchstieß.
Taylor schrie wieder und begann, um sich zu schlagen.
»Halten Sie ihn fest! Sie müssen ihn festhalten!«
»Wir versuchen es ja! Können Sie sich nicht beeilen?«
»Ich bin schon drin. Es dauert jetzt nur noch eine Minute.«
Sie hielt ein Teströhrchen unter die Öffnung der Spritze und fing den ersten Tropfen Rückenmarksflüssigkeit darin auf. Zu ihrer Überraschung war die Flüssigkeit kristallklar, ohne Blut und ohne die verräterische Trübung, die auf eine Infektion hingewiesen hätte. Dies war offenbar kein Fall von Meningitis. Womit habe ich es denn dann zu tun? So fragte sie sich, während sie vorsichtig weitere Rückenmarksflüssigkeit in drei Teströhrchen sammelte. Die Proben würden sofort ins Labor gehen, wo sie auf Zellstruktur, Bakterien, Glukose und Proteine untersucht werden würden. Sie mußte die Flüssigkeit in den Röhrchen jedoch nur ansehen, um zu wissen, daß die Ergebnisse normal sein würden.
Sie zog die Nadel heraus und bedeckte die Stelle mit Verbandmull. Alle Anwesenden schienen gleichzeitig aufzuatmen; die Prozedur war überstanden.
Aber der Antwort war sie nicht nähergekommen.
Später am selben Abend traf sie Taylors Mutter in der winzigen Kapelle des Krankenhauses. Sie saß regungslos da und starrte auf den Altar. Claire hatte schon vorher mit ihr gesprochen, als sie die Erlaubnis für die Lumbalpunktion eingeholt hatte. Da war Wanda ein einziges Nervenbündel gewesen, mit fahrigen Händen und zitternden Lippen. Sie war den ganzen Tag mit dem Auto unterwegs gewesen, zuerst die zweihundert Meilen nach Portland zu einem Termin mit ihrem Scheidungsanwalt, und dann die nervenaufreibende Rückfahrt, nachdem die Polizei ihr die furchtbare Nachricht übermittelt hatte.
Jetzt schien Wanda nur erschöpft zu sein, alle Adrenalinreserven waren aufgebraucht. Sie war eine kleine Frau, und sie trug ein schlechtsitzendes Kostüm, in dem sie wie ein Kind aussah, das mit den Kleidern seiner Mutter Erwachsensein spielte. Als Claire die Kapelle betrat, blickte sie auf, brachte aber kaum ein Nicken zur Begrüßung zustande.
Claire setzte sich und legte sanft ihre Hand auf die von Wanda. »Wir haben die Laborergebnisse von der Rückenmarkspunktion bekommen. Sie sind völlig normal; Taylor hat keine Meningitis.«
Wanda Darnell stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie ließ die Schultern in der übergroßen Kostümjacke nach vorne sinken.
»Das ist doch gut, oder?«
»Ja. Und nach der Computertomographie zu urteilen, hat er auch keinen Tumor oder irgendwelche Hirnblutungen. Das ist also auch gut.«
»Aber was hat er denn nun? Warum hat er es getan?«
»Ich weiß es nicht, Wanda. Wissen Sie es?«
Sie saß ganz still, als ringe sie innerlich um eine Antwort.
»Er ist nicht ... normal. Schon seit fast einer Woche.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat sich nicht unter Kontrolle, ist ständig wütend auf alle und jeden. Flucht und schimpft, knallt Türen. Ich dachte, es wäre wegen der Scheidung. Das Ganze hat ihm so zugesetzt ...«
Claire war unwohl bei dem Gedanken, das nächste Thema anzuschneiden, aber es mußte sein. »Was ist mit Drogen, Wanda? Die können die
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