Trügerische Ruhe
gelang es ihr gerade einmal, einen ihrer Mundwinkel ein wenig nach oben zu ziehen.
Ihr unerwarteter Besuch überraschte ihn so, daß ihm absolut nichts Intelligentes einfiel, was er hätte sagen können. So glotzte er sie nur an, etwa so verdattert wie ein Bauer, der plötzlich dem König gegenübersteht.
»Das ist für dich«, sagte sie und hielt ihm ein kleines braunes Päckchen hin. »Tut mir leid, aber ich habe nichts Nettes zum Einschlagen gefunden.«
Er nahm das Päckchen, konnte aber den Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. »Geht’s dir gut?«
»Alles in Ordnung. Du hast ja sicher gehört, daß Mrs. Horatio ...« Sie brach ab, mit den Tränen kämpfend.
Er nickte. »Meine Mom hat’s mir erzählt.«
Amelia berührte den Verband an ihrem Kopf. Wieder sah er Tränen in ihren Augen aufblitzen. »Ich habe deine Mom getroffen. In der Unfallstation. Sie war wirklich nett zu mir ...«
Sie wandte sich ab und blickte über ihre Schulter in die Dunkelheit zurück, als fühle sie sich beobachtet. »Ich muß jetzt gehen –«
»Hat jemand dich gefahren?«
»Ich bin zu Fuß gegangen.«
»Zu Fuß? In der Dunkelheit?«
»Es ist nicht sehr weit. Ich wohne gleich drüben am anderen Ufer des Sees, direkt hinter der Bootsanlegestelle.« Sie trat ein wenig von der Tür zurück; ihr blondes Haar wippte im Takt ihrer Schritte. »Ich seh dich dann in der Schule.«
»Amelia!« Er hielt das Geschenk hoch. »Wofür ist das?«
»Als Dankeschön. Für das, was du heute getan hast.« Sie ging noch einen Schritt weiter und war schon fast in der Dunkelheit verschwunden.
»Amelia!«
»Ja?«
Noah schwieg einen Moment; er wußte nicht, was er sagen sollte. Die Stille wurde nur vom Rascheln der welken Blätter durchbrochen, die über den Rasen tanzten. Amelia stand jetzt am Rand des Lichtkegels, der aus der offenen Haustür fiel. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval, das fast vom Dunkel der Nacht verschluckt wurde.
»Möchtest du reinkommen?« fragte er.
Zu seiner Überraschung schien sie über die Einladung nachzudenken. Einen Augenblick lang schwankte sie zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Annäherung und Rückzug. Wieder sah sie über die Schulter, als suche sie um Erlaubnis nach. Dann nickte sie.
Noah geriet einigermaßen in Panik wegen der Unordnung im Wohnzimmer. Seine Mutter war am Nachmittag nur für ein paar Stunden nach Hause gekommen, um ihn zu trösten und ihm etwas zu essen zu kochen. Dann war sie ins Krankenhaus zurückgefahren, um nach Taylor zu sehen. Niemand hatte im Wohnzimmer aufgeräumt, und alles lag noch da, wo Noah es am Nachmittag hingeworfen hatte – der Rucksack auf dem Sofa, das Sweatshirt auf dem Couchtisch, die schmutzigen Tennisschuhe vor dem Kamin. Er beschloß, einen Bogen um das Wohnzimmer zu machen, und führte Amelia statt dessen in die Küche.
Sie setzten sich, ohne einander anzusehen – zwei fremde Wesen, die Mühe hatten, eine gemeinsame Sprache zu finden.
Sie blickte kurz auf, als das Telefon klingelte. »Willst du nicht rangehen?«
»Nee. Ist nur wieder einer von diesen Reportern. Sie rufen schon die ganze Zeit an, seit ich zu Hause bin.«
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und es stellte sich heraus, daß er richtiggelegen hatte. Eine Frauenstimme sagte: »Hier ist Damaris Horne vom Weekly Informer. Ich würde sehr, sehr gerne mit Noah Elliot sprechen, wenn’s möglich wäre, wegen dieser erstaunlichen Heldentat heute früh im Klassenzimmer. Das ganze Land möchte etwas darüber hören, Noah. Ich bin im Lakeside Bed & Breakfast zu erreichen, und ich könnte dir eine finanzielle Entschädigung für den Zeitaufwand anbieten, falls das die Sache für dich attraktiver machen würde ...«
»Sie will dich bezahlen, bloß fürs Reden?« fragte Amelia.
»Verrückt, nicht wahr? Meine Mom sagt, das ist ein sicheres Zeichen dafür, daß ich nicht mit der Dame sprechen sollte.«
»Aber die Leute wollen was darüber hören. Was du getan hast.«
Was ich getan habe.
Er zuckte mit den Achseln. Er hatte das Gefühl, daß er das ganze Lob nicht verdient hatte, am wenigsten das von Amelia. Er saß da und hörte sich den Rest des Anrufs an. Dann wurde es wieder still; das einzige Geräusch war das leise Piepen der Nachrichtenanzeige.
»Du kannst es jetzt auspacken. Wenn du willst.«
Er sah das Geschenk an. Obwohl es nur in einfaches braunes Papier gewickelt war, gab er sich große Mühe, es nicht zu zerreißen. Er wäre sich ungehobelt vorgekommen, wenn er es vor ihren Augen
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