Trügerische Ruhe
vergessen, und er betrachtete Claire mit seiner üblichen aufreizenden Selbstsicherheit.
»Ich wollte Sie gerade anpiepsen«, sagte er. »Paul Darnell hat soeben entschieden –«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen.«
»Aha. Dann wissen Sie es ja.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich hoffe, Sie nehmen es nicht persönlich.«
»Es ist die Entscheidung der Eltern. Sie haben das Recht dazu«, gab sie widerwillig zu. »Aber da Sie den Fall übernehmen, dachte ich, Sie sollten vielleicht wissen, daß sich bei der Gaschromatographie von Taylors Blut ein abnormer Peak ergeben hat. Ich schlage vor, daß Sie ein umfassendes Drogen-Screening anordnen.«
»Ich glaube nicht, daß das notwendig ist.« Er legte die Akte hin und stand auf. »Die wahrscheinlichsten Substanzen sind ausgeschlossen worden.«
»Dieser Kurvengipfel muß identifiziert werden.«
»Paul möchte keine weiteren Tests.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich verstehe seine Einwände nicht.«
»Ich glaube, er ist zu den Entschluß gelangt, nachdem er mit seinem Anwalt gesprochen hat.«
Sie wartete, bis er weggegangen war, und nahm dann die Akte zur Hand. Sie blätterte darin, bis sie zu den Verlaufsbögen kam, und las mit wachsendem Unmut DelRays Eintragung: Anamnese und Befund diktiert. Einschätzung: Akute Psychose infolge abrupter Absetzung von Ritalin.
Hyperkinetisches Syndrom.
Claire ließ sich in den nächstbesten Stuhl fallen. Sie fühlte sich plötzlich unsicher auf den Beinen, und ihr war übel. Das war also die Strategie der Verteidigung. Daß der Junge für seine Handlungen nicht verantwortlich sei. Daß Claire die Schuld trage, weil sie ihm das Ritalin entzogen und so den Ausbruch einer Psychose ausgelöst habe. Ich werde auf der Anklagebank landen.
Das war der Grund, weshalb Paul nicht wollte, daß irgendwelche Drogen im Blut des Jungen gefunden wurden. Es würde Claire entlasten.
Erregt blätterte sie zum Anfang der Akte und las DelRays Anweisungen.
Umfassendes Screening auf Drogen/Toxine streichen.
Alle künftigen Fragen und Laborberichte an mich. Dr. Elliot ist nicht mehr behandelnde Ärztin.
Sie klappte die Akte zu und spürte, wie die Übelkeit heftiger wurde. Jetzt stand nicht mehr nur Taylors Leben auf dem Spiel; jetzt ging es auch um ihre Praxis, um ihren Ruf.
Sie dachte an die erste Verteidigungsregel für Mediziner: Halte dir den Rücken frei. Man kann dich nicht belangen, wenn du nachweisen kannst, daß du keinen Fehler gemacht hast. Wenn du deine Diagnose mit Laborergebnissen belegen kannst.
Sie brauchte eine Probe von Taylors Blut. Und jetzt war die letzte Gelegenheit, sie zu besorgen; schon morgen würde sein Körper alle eventuell vorhandenen Substanzen restlos ausgeschieden haben. Dann wäre kein Nachweis mehr möglich.
Sie ging zum Vorratsraum auf der anderen Seite des Stationszimmers, öffnete eine Schublade und nahm eine Vacutainer-Spritze, Alkoholtupfer und drei Blutabnahme-Röhrchen mit rotem Verschluß heraus. Ihr Herz raste, als sie den Korridor entlang zu Taylors Zimmer ging. Der Junge war nicht mehr ihr Patient, und sie hatte kein Recht, dies zu tun; doch sie mußte wissen, welche Droge – falls es sich um eine Droge handelte – in seinem Blutkreislauf zirkulierte.
Der State Trooper nickte ihr zur Begrüßung zu, als sie näher kam.
»Ich muß Blut abnehmen«, sagte sie. »Wären Sie so freundlich, seinen Arm so lange zu halten?«
Er schien nicht gerade glücklich darüber zu sein, aber er folgte ihr in das Zimmer.
Nimm es rasch ab und verschwinde dann von hier. Mit zitternden Händen legte sie die Aderpresse an und nahm die Schutzkappe von der Nadel. Du mußt hier raus, bevor jemand dahinterkommt, was du tust. Sie betupfte Taylors Arm mit Alkohol, und er stieß einen wütenden Schrei aus und sträubte sich gegen den festen Griff des Polizisten. Claires Puls beschleunigte sich, als sie die Haut durchstach und spürte, wie die Nadel mit einem kaum merklichen plop in die Vene eindrang. Schnell. Schnell! Sie füllte ein Röhrchen, ließ es in ihre Kitteltasche gleiten und schob dann das nächste in den Vacutainer. Dunkles Blut strömte aus der Vene.
»Ich kann ihn nicht stillhalten«, sagte der Polizist, während er den fluchenden und sich sträubenden Jungen mühsam in Schach hielt.
»Ich bin fast fertig.«
»Er versucht, mich zu beißen!«
»Halten Sie ihn nur still!« sagte sie barsch. Das schrille Geschrei des Jungen zerrte an ihren Nerven. Sie schob das dritte Röhrchen
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