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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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einfach so zerfetzt hätte. Vorsichtig zog er das Klebeband ab und wickelte das Geschenk aus.
    Das Taschenmesser war weder groß noch beeindruckend. Er sah Kratzer am Griff; es war also noch nicht einmal neu. Sie hatte ihm ein gebrauchtes Messer geschenkt.
    Er brachte ein einigermaßen enthusiastisch klingendes »Wow« hervor, »Das ist aber hübsch.«
    »Es hat meinem Dad gehört.« Leise fügte sie hinzu: »meinem richtigen Dad.«
    Er sah auf, als ihm die Bedeutung dieser Worte klar wurde.
    »Jack ist mein Stiefvater.« Sie sprach das letzte Wort so aus, als ob es etwas ganz und gar Abscheuliches wäre.
    »Dann sind J. D. und Eddie ...«
    »Sie sind nicht meine richtigen Brüder. Es sind Jacks Söhne.«
    »Ich hab mich schon gewundert. Sie gleichen dir gar nicht.«
    »Gott sei Dank.«
    Noah lachte. »Ja, auf so eine Familienähnlichkeit wäre ich auch nicht gerade scharf.«
    »Ich darf noch nicht mal über meinen richtigen Dad reden, weil Jack dann wütend wird. Er haßt es, daran erinnert zu werden, daß da vor ihm schon jemand war. Aber ich will, daß es alle wissen. Die Leute sollen wissen, daß Jack nichts mit dem Menschen zu tun hat, der ich wirklich bin.«
    Er legte ihr das Messer sachte in die Hand. »Ich kann das nicht annehmen, Amelia.«
    »Ich möchte es aber.«
    »Aber es muß dir eine Menge bedeuten, wenn es ihm gehört hat.«
    »Deshalb will ich ja, daß du es bekommst.« Sie fuhr mit den Fingern über den Verband an ihrer Schläfe, als wolle sie ihn daran erinnern, was sie ihm schuldete. »Du bist der einzige gewesen, der irgendwas gemacht hat. Der einzige, der nicht weggerannt ist.«
    Er konnte ihr die peinliche Wahrheit nicht gestehen: Ich wäre gerne weggerannt, aber ich hatte so fürchterliche Angst, daß ich die Beine nicht bewegen konnte.
    Sie sah auf die Küchenuhr und sprang abrupt auf. Erschrocken sagte sie: »Ich wußte nicht, daß es schon so spät ist.«
    Er begleitete sie zur Haustür. Kaum war sie über die Schwelle getreten, als plötzlich Scheinwerferstrahlen zwischen den Bäumen hervorbrachen. Sie drehte sich um und schien zu erstarren, als der Lastwagen dröhnend die Auffahrt heraufkam.
    Die Fahrertür flog auf, und Jack Reid sprang heraus, spindeldürr und mit finsterer Miene.
    »Los, steig ein, Amelia!« sagte er. »Jack, woher wußtest du ...«
    »Eddie hat gesagt, du wärst wohl hier.«
    »Ich wollte gerade nach Hause gehen.«
    »Steig ein, und zwar sofort!«
    Sie verstummte augenblicklich und kletterte gehorsam auf den Beifahrersitz.
    Ihr Stiefvater wollte sich eben wieder ans Lenkrad setzen, als sein Blick sich mit Noahs traf.
    »Sie treibt sich nicht mit Jungs rum«, sagte er. »Das solltest du dir merken.«
    »Sie ist nur vorbeigekommen, um hallo zu sagen«, erwiderte Noah wütend. »Was ist denn daran so schlimm?«
    »Was daran schlimm ist? Du hast die Finger von meiner Tochter zu lassen, ist das klar, Bursche?« Er stieg ein und knallte die Tür zu.
    »Sie ist ja noch nicht mal Ihre Tochter!« schrie Noah, aber er wußte, daß der Mann ihn durch das Geräusch des aufheulenden Motors nicht hören konnte.
    Als der Lastwagen in der Auffahrt kehrtmachte, konnte Noah für einen Moment Amelias Profil sehen, eingerahmt vom Seitenfenster. Ihr ängstlicher Blick war starr nach vorne gerichtet.

6
    Die ersten Schneeflocken wirbelten durch das kahle Geäst herab und senkten sich wie feiner Staub auf die Grabungsstätte. Lucy Overlock warf einen Blick zum Himmel und sagte: »Es wird doch wieder aufhören zu schneien, oder? Es muß aufhören, sonst werden noch alle Spuren verwischt.«
    »Der Schnee schmilzt schon wieder«, meinte Lincoln. Er schnüffelte kurz, und irgendein Instinkt, entstanden in lebenslanger Verbundenheit mit diesen Wäldern, sagte ihm, daß der Schnee sich nicht lange halten würde. Diese Flocken waren nur eine geflüsterte Warnung vor den kommenden Wintermonaten, trügerisch in ihrer Sanftheit. Der Schnee machte ihm nichts aus, ebensowenig wie all die Unannehmlichkeiten, die damit verbunden waren – das Schaufeln und Schneepflügen, die Nächte ohne Strom, wenn die Überlandleitungen unter der Last des Schnees zusammenbrachen. Es war die Dunkelheit, die er nicht mochte. In diesen Tagen wurde es so früh dunkel. Schon begann das Tageslicht zu schwinden, und die Bäume waren nur noch formlose schwarze Kleckse vor dem Hintergrund des Himmels.
    »Für heute können wir wohl einpacken«, sagte Lucy »Und hoffen, daß morgen früh nicht alles unter dreißig Zentimetern

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