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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Schnee begraben ist.«
    Da die Knochen jetzt nicht mehr von Interesse für die Polizei waren, hatten Lucy und ihre Assistenten die Verantwortung für den Schutz der Ausgrabung übernommen. Die beiden jungen Archäologen zogen eine Plane über die Grabungsstelle und sicherten sie mit Pflöcken. Es war eine nutzlose Vorkehrung; ein Waschbär auf Raubzug hätte sie mit seinen Klauen im Nu aufgerissen.
    »Wann sind Sie hier fertig?« fragte Lincoln.
    »Ich würde mir gerne einige Wochen Zeit lassen«, antwortete Lucy. »Aber das Wetter wird schlechter, und deshalb müssen wir uns beeilen. Ein strenger Frost, und das war’s dann für dieses Jahr.«
    Der Strahl eines Scheinwerfers flackerte durch die Bäume. Lincoln sah, daß ein weiterer Wagen in Rachel Sorkins Einfahrt eingebogen war.
    Er stapfte durch den Wald zurück zum Haus. In den letzten paar Tagen hatte sich der Hof in einen Parkplatz verwandelt. Neben Lincolns Wagen standen Lucy Overlocks Jeep und ein verbeulter Honda, der, wie er vermutete, ihrem Doktoranden gehörte.
    Auf der anderen Seite der Einfahrt, unter den Bäumen, war noch ein weiteres Fahrzeug geparkt – ein dunkelblauer Volvo. Er erkannte ihn, ging über den Hof und trat neben die Fahrertür.
    Das Fenster öffnete sich summend einen Spalt weit. »Lincoln«, sagte die Frau.
    »Guten Abend, Richterin Keating.«
    »Haben Sie Zeit zu reden?« Er hörte das Klicken der Türverriegelung.
    Lincoln ging um den Wagen herum zur Beifahrerseite, stieg ein und schloß die Tür. Eine Weile saßen sie nur da, eingehüllt in Schweigen.
    »Haben Sie noch irgend etwas gefunden?« fragte sie. Sie sah ihn nicht an; ihr Blick war starr nach vorn gerichtet und fixierte einen Punkt irgendwo in den Bäumen. Im Dämmerlicht des Wageninneren sah sie jünger aus als ihre Sechsundsechzig Jahre, und die Falten in ihrem Gesicht schienen sich geglättet zu haben. Sie wirkte nicht nur jünger, sondern auch weniger ehrfurchtgebietend.
    »Da waren nur die zwei Skelette«, sagte Lincoln.
    »Beide waren Kinder?«
    »Ja. Dr. Overlock schätzt ihr Alter auf etwa neun oder zehn Jahre.«
    »Kein natürlicher Tod?«
    »Nein. Beide starben durch Gewalteinwirkung.« Es war eine Weile still. »Und wann ist das geschehen?«
    »Das ist nicht so leicht zu bestimmen. Alles, woran sie sich halten können, sind einige Artefakte, die bei den Überresten gefunden wurden. Sie haben ein paar Knöpfe ausgegraben, einen Griff von einem Sarg. Dr. Overlock meint, es handle sich vermutlich um einen Teil eines Familienfriedhofs.«
    Sie nahm sich Zeit, um diese Information zu verarbeiten. Ihre nächste Frage kam leise und zögernd. »Die Überreste sind also ziemlich alt?«
    »Hundert Jahre ungefähr.«
    Sie atmete tief aus. War es nur Einbildung, oder konnte Lincoln wirklich sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel? Sie schien vor Erleichterung förmlich zu erschlaffen und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze fallen. »Hundert Jahre«, sagte sie. »Dann gibt es keinen Grund zur Besorgnis. Es hat nichts zu tun mit –«
    »Nein. Es gibt keine Zusammenhänge.«
    Sie blickte geradeaus in die sich verdichtende Dunkelheit.
    »Trotzdem, es ist ein so merkwürdiger Zufall, nicht wahr? Genau derselbe Abschnitt des Sees ...« Sie schwieg einen Moment. »Ich frage mich, ob es wohl im Herbst passiert ist.«
    »Jeden Tag sterben Menschen, Richterin Keating. Die Skelette von einem ganzen Jahrhundert – alle müssen sie irgendwo begraben werden.«
    »Ich habe gehört, auf einem der Oberschenkelknochen sind Axtspuren.«
    »Das stimmt.«
    »Das wird die Leute stutzig machen. Sie werden sich erinnern.«
    Lincoln hörte die Angst der Frau, und er wollte sie gerne beruhigen, doch er konnte sich nicht zu einem körperlichen Kontakt durchringen. Iris Keating war keine Frau, die man anfaßte. Ihr emotionaler Schutzschild war so stark, daß es ihn nicht gewundert hätte, wenn er die Hand ausgestreckt und eine Schale gefühlt hätte.
    Er sagte: »Es ist lange her. Niemand erinnert sich daran.«
    »Diese Stadt erinnert sich.«
    »Nur einige wenige. Die Älteren. Und die möchten genausowenig darüber reden wie Sie.«
    »Und dennoch – das Ganze ist aktenkundig. Und jetzt sind all diese Reporter in der Stadt. Sie werden Fragen stellen.«
    »Was vor einem halben Jahrhundert passiert ist, ist ohne Belang.«
    »Wirklich?« Sie sah ihn an. »So hat es das letzte Mal angefangen. Die Morde. Es hat im Herbst angefangen.«
    »Sie können nicht jede Gewalttat als Wiederholung der

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