Trügerische Ruhe
Geschichte interpretieren.«
»Aber Geschichte ist Gewalt.« Erneut blickte sie nach vorne, in Richtung des Sees. Die Nacht war vollends hereingebrochen, und das Wasser war nur als schwacher Schimmer zwischen den kahlen Bäumen zu erkennen.
»Fühlen Sie es nicht, Lincoln?« fragte sie leise. »Irgend etwas stimmt nicht mit diesem Ort. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe es gespürt, seit ich klein war. Ich mochte nicht hier leben, schon damals nicht. Und jetzt ...« Sie griff nach dem Zündschlüssel und startete den Motor.
Lincoln stieg aus. »Die Straße ist glatt heute nacht. Fahren Sie vorsichtig.«
»Ja. Ach, übrigens, Lincoln?«
»Ja?«
»Ich habe erfahren, daß es wieder möglich ist, in das Rehabilitationsprogramm für Alkoholiker in Augusta reinzukommen. Das wäre vielleicht das richtige für Doreen. Wenn Sie sie dazu überreden können.«
»Ich werde es versuchen. Ich hoffe nur, daß es eines Tages auch mal Wirkung zeigt.«
Er glaubte, in ihren Augen Mitleid zu erkennen. »Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie hätten es wirklich verdient, Lincoln.«
»Ich komme schon zurecht.«
»Natürlich.« Jetzt erkannte er, daß in ihrer Stimme nicht Mitleid, sondern Bewunderung mitschwang. »Sie sind einer der wenigen Männer auf dieser Welt, denen man das zutrauen würde.«
Man hatte ein Foto von Mrs. Horatio auf den Sarg gestellt; ein Porträt, das sie als junge Frau von achtzehn Jahren zeigte, lächelnd, beinahe hübsch. Noah hätte seine Biologielehrerin nie als hübsch bezeichnet, und er wäre auch nie auf die Idee gekommen, daß sie irgendwann einmal jung gewesen war. In seiner Vorstellung war Dorothy Horatio schon als Frau mittleren Alters auf die Welt gekommen, und jetzt, im Tode, würde sie für alle Ewigkeit so bleiben.
In der langen Schlange von Schülern schlurfte er geduldig auf den Sarg zu, vorbei an der Fotografie von Mrs. Horatio in ihrer früheren Inkarnation als wirkliche, lebendige Frau. Es war ein Schock, diese Konfrontation mit dem seltsam vertrauten Abbild einer Mrs. Horatio ohne die zusätzlichen Pfunde, die Falten und die grauen Haare. Sich klarzumachen, daß diese Aufnahme entstanden war, als sie nicht viel älter gewesen war als Noah jetzt. »Was passiert, wenn wir alt werden?« fragte er sich. »Was wird aus dem Kind, das wir einmal waren?«
Er blieb vor dem Sarg stehen. Er war geschlossen – und das war ein Segen, denn er glaubte nicht, daß er es ertragen hätte, das Gesicht seiner toten Lehrerin zu sehen. Es war furchtbar genug, sich vorzustellen, wie sie wohl aussah, verborgen unter diesem Mahagonideckel. Er hatte Dorothy Horatio nicht besonders gemocht. Überhaupt nicht, genauer gesagt. Aber heute war er ihrem Mann und ihrer erwachsenen Tochter begegnet, hatte gesehen, wie sie einander schluchzend um den Hals gefallen waren, und ihm war eine verblüffende Wahrheit aufgegangen: daß auch die Mrs. Horatios dieser Welt Menschen haben, die sie lieben.
Auf der spiegelnden Oberfläche des Sargs konnte er sein eigenes Gesicht sehen, mit gleichgültiger und gefaßter Miene. Alle Gefühle versteckt hinter einer ausdruckslosen Maske.
Bei der letzten Beerdigung, an der er teilgenommen hatte, war er nicht so gefaßt gewesen.
Zwei Jahre zuvor hatten er und seine Mutter Hand in Hand vor dem Sarg seines Vaters gestanden. Der Deckel war offen gewesen, so daß die Leute auf sein hageres Gesicht herabblicken konnten, während sie Abschied
nahmen. Als es Zeit war zu gehen, hatte sich Noah geweigert, seinen Platz zu verlassen. Seine Mutter hatte versucht, ihn wegzuführen, aber er hatte nur geschluchzt: Du kannst Daddy nicht da drin lassen! Geh zurück! Geh zurück!
Er blinzelte und berührte Mrs. Horatios Sarg leicht mit der Hand. Er war glatt und glänzend. Wie ein edles Möbelstück.
Was wird aus dem Kind, das wir einmal waren?
Endlich wurde ihm bewußt, daß die Reihe von Trauergästen vor ihm verschwunden war und daß sie hinter ihm schon darauf warteten, daß er Platz machte. Er ging an dem Sarg vorbei den Mittelgang entlang und floh dann aus der Leichenhalle. Draußen schneite es ein wenig. Das Gefühl der kalten Schneeflocken auf seinem Gesicht war wohltuend. Er stellte erleichtert fest, daß keiner der Reporter ihm nach draußen gefolgt war. Den ganzen Nachmittag waren sie mit ihren Kassettenrecordern hinter ihm hergewesen, um auch nur einen Satz von dem Jungen zu erhaschen, der dem Killer mutig die Pistole entwunden hatte. Dem Helden der Knox High School.
Was für
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