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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ein Witz.
    Er stand zitternd am Straßenrand gegenüber der Leichenhalle und beobachtete, wie die Leute aus dem Gebäude in die Dämmerung heraustraten. Alle vollführten sie das gleiche Ritual des In-die-Kälte-Kommens: Sie warfen einen abschätzenden Blick zum Himmel, erschauerten und hüllten sich enger in ihre Mäntel. Praktisch die ganze Stadt war gekommen, um Mrs. Horatio die letzte Ehre zu erweisen, aber einige von ihnen erkannte er kaum wieder, so verändert wirkten sie in ihren Anzügen und Krawatten und Trauerkleidern. Niemand trug die üblichen Baumwollsachen und Jeans.
    Selbst Chief Kelly hatte einen Anzug mit Schlips an.
    Noah sah, wie Amelia Reid aus der Tür der Leichenhalle trat. Sie atmete schnell und tief und ließ sich kraftlos gegen die Hauswand sinken, als ob sie verfolgt worden sei und nun verzweifelt versuchte, Luft zu schöpfen.
    Ein Auto kam heran; die Reifen knirschten in dem harschen Schnee, als es zwischen ihnen hindurchfuhr.
    Noah rief zu ihr hinüber: »Amelia!«
    Sie schreckte auf, hob den Kopf und erkannte ihn. Sie zögerte und spähte nach links und rechts auf die Straße, als wolle sie sich vergewissern, daß keine Gefahr drohte. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, als sie die Straße überquerte und sich zu ihm gesellte.
    »Ziemlich ätzend da drin«, sagte er.
    Sie nickte. »Ich konnte nicht länger zuhören. Ich wollte nicht vor allen Leuten anfangen zu heulen.«
    Ich auch nicht, dachte er; hätte es aber nie zugegeben.
    Sie standen zusammen in der trüben Kälte, ohne einander anzusehen, und traten von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. Beide suchten nach einem Faden, um ein Gespräch anzuknüpfen. Er holte tief Luft und sagte unvermittelt: »Ich hasse Beerdigungen. Sie erinnern mich an.« Er brach ab.
    »Mich erinnern sie auch an die Beerdigung meines Dads«, sagte sie leise. Und sie blickte nach oben, wo die Schneeflocken aus dem dunkler werdenden Himmel herabtaumelten.
    Warren Emerson ging am Rand der Straße entlang. Das reifbedeckte Gras knirschte unter seinen Stiefeln. Er trug eine Weste und eine Mütze in Signalorange, und doch zuckte er jedesmal unwillkürlich zusammen, wenn
    irgendwo in den Wäldern ein Gewehr losging. Die Kugeln waren schließlich farbenblind. Es war kalt an diesem Morgen, viel kälter als gestern, und seine Finger schmerzten in den dünnen Wollhandschuhen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und trottete weiter, ohne sich allzu viele Gedanken über die Kälte zu machen. Er wußte, daß er sie nach einer weiteren Meile nicht mehr spüren würde.
    Er war diesen Weg über tausend Mal gegangen, zu jeder Jahreszeit, und er konnte die zurückgelegte Strecke an den vertrauten Wegmarken abmessen, die er passierte. Die zerfallene Steinmauer war vierhundert Schritte von seinem Hof entfernt. Bis zu der baufälligen Scheune der Murrays waren es neunhundertfünfzig Schritte. Nach zweitausend Schritten kam die Abzweigung zur Toddy Point Road, die genau die Hälfte der Strecke markierte. Immer mehr Wegmarken kamen hinzu, je mehr er sich dem Stadtrand näherte. Auch der Verkehr wurde dichter; mehr und mehr Autos und Lastwagen donnerten mit dreckspritzenden Reifen an ihm vorbei.
    Die Fahrer aus der Gegend hielten nur selten an, um ihn zu fragen, ob sie ihn in die Stadt mitnehmen könnten. Im Sommer gab es jede Menge Mitfahrgelegenheiten, denn für die Touristen war Warren Emerson, wie er da in seinen Stiefeln und ausgebeulten Hosen entlangschlurfte, ein lebendiges Stück Lokalkolorit. Sie hielten an und luden ihn ein, einzusteigen und ein Stück mitzufahren. Während der Fahrt löcherten sie ihn dann mit einem endlosen Schwall von Fragen. Es waren immer dieselben: »Was machen die Leute hier eigentlich im Winter?«
    »Haben Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht?«
    »Sind Sie jemals Stephen King begegnet?« Warrens Antworten gingen nie über ein schlichtes Ja oder Nein hinaus, und die Touristen fanden diese Wortkargheit immer wieder erheiternd. Schließlich fuhren sie in die Stadt hinein, setzten ihn beim Supermarkt ab und winkten ihm zum Abschied so herzlich zu, daß man glauben konnte, es handle sich um ihren besten Freund. Verdammt nette Leute, diese Touristen; er war jedesmal traurig, wenn sie im Herbst abreisten, denn das bedeutete, daß er die nächsten neun Monate wieder zu Fuß gehen mußte, weil kein einziger Fahrer für ihn anhalten wollte.
    Die Leute aus der Stadt hatten alle Angst.
    Wenn er einen Führerschein hätte, so dachte

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