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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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er oft, dann wäre er nicht so ein unsympathischer alter Mann. Aber Warren konnte nicht Auto fahren. Er besaß einen völlig intakten alten Ford, der in seiner Scheune herumstand – der Wagen seines Vaters, ein 45er Modell, kaum gefahren –, doch Warren konnte nichts damit anfangen. Eine Gefahr für sich selbst und für andere. Das hatten die Ärzte über seine Fahrerei gesagt.
    Also war der Ford in der Scheune geblieben, jetzt schon über fünfzig Jahre lang, und er glänzte noch genauso wie an dem Tag, als sein Vater ihn dort geparkt hatte. Die Zeit ging mit Chrom freundlicher um als mit dem Gesicht eines Mannes. Oder seinem Herzen. Ich bin eine Gefahr für mich und andere.
    Jetzt endlich wurden seine Hände allmählich warm.
    Er zog sie aus den Taschen und schwenkte die Arme im Rhythmus seiner Schritte; sein Herz pumpte schneller, und unter seiner Mütze sammelte sich der Schweiß. Selbst an den eisigsten Tagen machte ihm die Kälte irgendwann nichts mehr aus, wenn er nur schnell genug ging.
    Als er schließlich die Stadt erreichte, hatte er schon den Mantel aufgeknöpft und die Mütze abgenommen. Und als er Cobb and Morong’s Supermarkt betrat, fand er es darin fast unerträglich heiß.
    Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, schien der ganze Laden zu verstummen. Der Verkäufer blickte zuerst auf und dann weg. Die zwei Frauen, die beim Gemüse standen, hörten auf zu schwatzen. Obwohl niemand ihn anstarrte, konnte er spüren, daß alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, als er sich einen Einkaufskorb nahm und zwischen den Regalen entlang zu den Konserven ging. Er füllte seinen Korb mit den gleichen Artikeln, die er jede Woche kaufte. Katzenfutter. Chili mit Rindfleisch. Thunfisch. Mais. Er ging weiter zu dem Regal mit den getrockneten Bohnen und dem Haferschrot, und dann zum Gemüse, um sich einen Beutel Zwiebeln zu holen.
    Er trug den schwer gewordenen Korb zur Kasse.
    Die Kassiererin vermied es, ihn anzusehen, während sie seine Einkäufe zusammenrechnete. Er stand da neben der Registrierkasse mit seiner signalorangen Weste, die in die Welt hinauszuschreien schien: Seht mich an! Seht mich an! Aber niemand tat es. Niemand erwiderte seinen Blick.
    Schweigend bezahlte er die Waren, nahm die Plastiktüten und wandte sich zum Gehen, bereit für den langen Fußmarsch nach Hause. An der Tür blieb er stehen.
    Am Zeitungsstand lag die Tranquility Gazette für diese Woche. Ein Exemplar war noch übrig. Er starrte die Schlagzeile an, und plötzlich glitten die Einkaufstüten aus seinen Händen und fielen zu Boden. Mit zitternden Händen griff er nach der Zeitung.
    SCHIESSEREI IN DER HIGH SCHOOL: LEHRERIN TOT, ZWEI SCHÜLER VERLETZT. VIERZEHNJÄHRIGER FESTGENOMMEN.
    »He! Wollen Sie die Zeitung vielleicht auch bezahlen?« rief der Verkäufer.
    Warren antwortete nicht. Er blieb einfach an der Tür stehen, und sein entsetzter Blick war auf eine zweite Überschrift geheftet, die in der rechten unteren Ecke der Seite versteckt war: JUGENDLICHER PRÜGELT WELPEN zu TODE. VORLADUNG WEGEN TIERQUÄLEREI.
    Und er dachte: Es geht wieder los.
    Damaris Horne steckte im Schlamassel, und ihr einziger Gedanke war, wie sie nach Boston zurückkommen sollte. So bestraft mich mein Chefredakteur also, dachte sie. Wir haben eine kleine Meinungsverschiedenheit, und er schiebt mir eine Story zu, die niemand haben will. Willkommen in Kuhdorf am See, auch bekannt als Tranquility, Maine. Guter Name. Es war so ruhig hier, man hätte dem ganzen Ort einen Totenschein ausstellen sollen. Sie fuhr die Main Street entlang und dachte, daß dies ein perfektes Beispiel dafür wäre, wie eine Stadt nach dem Einschlag einer Neutronenbombe aussehen müßte: keine Leute, keine Spur von Leben, nur Gebäude und menschenleere Straßen. Angeblich lebten neunhundertzehn Einwohner in dieser Stadt – aber wo waren sie alle? Waren sie im Wald und nagten das Moos von den Bäumen?
    Sie fuhr an Monaghan’s Diner vorbei und konnte durch das Fenster ein buntkariertes Hemd erkennen. Ja! Ein Eingeborener in zeremonieller Tracht. (Worin bestand eigentlich die mystische Bedeutung von karierter Baumwolle?) Etwas weiter die Straße entlang, und sie bekam ein weiteres Exemplar zu Gesicht: Ein schäbig gekleideter alter Knacker kam mit Plastiktüten beladen aus dem Supermarkt. Sie hielt an, um ihn die Straße überqueren zu lassen, und er schlurfte vorbei, mit gesenktem Kopf und einem Ausdruck permanenter Erschöpfung. Sie sah ihm nach, wie er am Seeufer entlangging,

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