Trügerische Ruhe
eine langsam voranschreitende Silhouette vor einem trostlosen Hintergrund aus kahlen Bäumen und grauem Wasser.
Sie fuhr weiter zum Lakeside Bed-and-Breakfast, ihrer Bleibe auf unbestimmte Dauer. Es war das einzige Gasthaus am Ort, das so spät im Jahr noch geöffnet war, und obwohl sie es spöttisch als »Bates Motel« bezeichnete, wußte sie, daß sie sich glücklich schätzen mußte, überhaupt noch ein Zimmer gefunden zu haben, nachdem die Reporter aus der ganzen Region auf die Stadt einströmten.
Sie ging in den Speisesaal und sah, daß die meisten ihrer Konkurrenten sich immer noch am Frühstücksbüffet gütlich taten. Damaris ließ das Frühstück immer aus, so daß sie an diesem Morgen einen Vorsprung hatte. Es war acht Uhr, und sie war bereits seit zweieinhalb Stunden auf den Beinen. Um sechs war sie im Krankenhaus gewesen, um zu beobachten, wie der Junge in seine neue Bleibe, das Maine Youth Centre, gebracht wurde. Um Viertel nach sieben war sie zur High School hinausgefahren. Dort hatte sie in ihrem Wagen gesessen und zugesehen, wie sich die Schüler in ihren schlabberigen Klamotten vor dem Eingang versammelten und auf das erste Klingeln warteten. Sie sahen aus wie ganz normale Teenager.
Damaris ging zur Kaffeemaschine und goß sich eine Tasse ein. Während sie ihren schwarzen Kaffee schlürfte, sah sie sich unter den Reportern im Saal um, bis ihr Blick an Mitchell Groome, dem freien Mitarbeiter, hängenblieb. Obwohl er nicht älter als fünfundvierzig sein konnte, bestand sein Gesicht hauptsächlich aus traurig herabhängenden Hautsäcken, so daß er wie ein schwermütiger Dackel wirkte. Dennoch sah er recht fit aus, vielleicht sogar athletisch. Und das beste war, daß er ihren Blick bemerkt hatte und ihn erwiderte, auch wenn er recht verdutzt wirkte.
Sie stellte ihre leere Tasse ab und schlenderte aus dem Speisesaal; sie mußte sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, daß Groome sie beobachtete.
Das Kuhdorf am See war gerade ein wenig interessanter geworden.
Oben in ihrem Zimmer verbrachte sie einige Minuten damit, ihre Notizen von den Interviews durchzugehen, die sie in den letzten Tagen geführt hatte. Jetzt kam der schwierige Teil – nämlich alles zu einem Artikel zusammenzufügen, der ihren Chefredakteur glücklich machen und den gelangweilten Hausfrauen von New England ins Auge springen würde, wenn sie an den Zeitungsständen vorbeikamen.
Sie saß an ihrem Schreibtisch, starrte aus dem Fenster und überlegte, wie sie es anstellen sollte, diese tragische, aber dennoch hundsgewöhnliche Geschichte ein wenig aufzupeppen. Was machte diesen Fall einmalig? Wie konnte man die Story so präsentieren, daß sie die Leser zum Kauf der Weekly Gazette verlockte?
Plötzlich wurde ihr klar, daß die Antwort ihr im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht starrte.
Direkt gegenüber stand ein heruntergekommenes altes Gebäude mit vernagelten Fenstern. Auf dem verblaßten Schild stand Kimballs Möbelhaus.
Die Hausnummer war 666.
Das Zeichen des Bösen.
Während ihr Laptop hochfuhr, durchwühlte sie hastig ihre Notizen nach einem Zitat, das sie noch von gestern in Erinnerung hatte. Etwas, das eine Frau im Lebensmittelgeschäft gesagt hatte.
Sie fand es. »Ich kenne die Erklärung für das, was in der Schule passiert ist«, hatte die Frau erklärt. »Jeder kennt sie, aber keiner will es zugeben. Sie wollen nicht als abergläubisch oder ungebildet erscheinen. Aber ich werde Ihnen sagen, was es ist: Es ist diese neue Gottlosigkeit. Die Leute haben den Herrn aus ihrem Leben verdrängt. Sie haben Ihn durch etwas anderes ersetzt. Etwas, wovon niemand zu sprechen wagt.«
Ja! dachte Damaris, und sie grinste, als sie zu tippen begann.
»Letzte Woche hielt Satan Einzug in die idyllische Stadt Tranquility, Maine ...«
Faye Braxton saß in ihrem Rollstuhl vor dem Wohnzimmerfenster und sah zu, wie ihr dreizehnjähriger Sohn aus dem Schulbus ausstieg und sich anschickte, die lange, ungeteerte Zufahrt zum Haus hinaufzugehen. Es war ein tägliches Ereignis, auf das sie sich normalerweise freute – zu sehen, wie Scottys schmächtige Gestalt endlich aus der Bustür heraustrat, mit seinem schweren Ranzen auf den Schultern, den Kopf nach vorne gebeugt, während er sich damit abmühte, seine Bücherlast den steilen, unkrautbewachsenen Weg zum Haus hochzuschleppen.
Er war immer noch so klein. Es tat ihr weh, zu sehen, wie wenig er im letzten Jahr gewachsen war. Viele seiner Klassenkameraden hatten ihn, was Größe
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