Trügerische Ruhe
lockerer an!«
»Laß mich mal dein Herz abhören«, sagte Claire.
Barry watschelte hinüber zum Untersuchungstisch, stieg vorsichtig auf den Schemel und ließ sich auf den Tisch plumpsen. Er schälte sich aus seinem Hemd und enthüllte mehrere Rollen blassen, schlaff herabhängenden Fleisches. Während Claire sein Herz und seine Lunge abhörte und seinen Blutdruck maß, spürte sie, wie sein neugieriger, interessierter Blick jede ihrer Bewegungen verfolgte. Als sie ihm zum erstenmal begegnet war, hatte er ihr verraten, daß er Arzt werden wollte, und er schien seine zweimonatlichen Besuche bei ihr regelrecht zu genießen, weil er dabei Feldforschung in seinem künftigen Beruf treiben konnte. Wenn er sich gelegentlich einer Blutprobe unterziehen mußte, war das für ihn keine Tortur wie für die meisten Patienten, sondern eine faszinierende Prozedur – eine Gelegenheit, endlose Detailfragen über Nadelgrößen und Spritzenvolumen und die Bedeutung all der verschiedenfarbigen Blutröhrchen loszuwerden.
Wenn Barry bloß die gleiche Aufmerksamkeit auf das verwenden würde, was er in seinen Mund stopfte.
Sie beendete die Untersuchung und trat dann einen Schritt zurück, um einen Blick auf ihn zu werfen. »Du machst das sehr gut, Barry Wie läuft’s denn mit der Diät?«
Er zuckte die Achseln. »Ganz gut, glaub ich. Ich geb mir echt Mühe.«
»Ach, er ißt halt so schrecklich gern! Das ist das Problem«, meinte Louise. »Ich gebe mein Bestes und koche immer nur fettarm. Aber dann kommt sein Daddy nach Hause mit einer Schachtel Donuts, und, na ja ... es ist so schwer, zu widerstehen. Es bricht mir fast das Herz, wenn Barry uns so anschaut mit seinen großen hungrigen Augen.«
»Könnten Sie Ihren Mann nicht davon abbringen, immer Donuts mitzubringen?«
»O nein! Wissen Sie, Mel hat diese ...« Sie beugte sich vor und flüsterte vertraulich: »Eßstörungen.«
»Tatsächlich?«
»Bei Mel habe ich’s längst aufgegeben. Aber Barry – er ist noch so jung. Es ist nicht gut für einen Jungen in seinem Alter, so viel Gewicht mit sich rumzuschleppen. Und die anderen Kinder können so gemein sein, was das betrifft.«
Claire sah Barry mitfühlend an. »Du hast Probleme in der Schule?«
Ein Licht schien in den Augen des Jungen zu erlöschen. Er senkte den Blick; all seine Fröhlichkeit war wie weggeblasen.
»Ich mag die Schule nicht mehr besonders.«
»Die anderen Schüler necken dich?«
»Sie hören gar nicht mehr auf mit ihren Fettsack-Witzen.«
Claire blickte zu Louise, die traurig den Kopf schüttelte.
»Er hat einen IQ von hundertfünfunddreißig, und er will nicht zur Schule gehen. Ich weiß nicht, was ich da noch machen soll.«
»Jetzt paß mal auf, Barry«, sagte Claire. »Wir werden allen zeigen, wie entschlossen du bist. Du bist einfach zu intelligent, um dich von diesen anderen Kindern fertigmachen zu lassen.«
»Na ja, besonders helle sind die nicht«, gab er hoffnungsvoll zu.
»Und deinen eigenen Körper mußt du auch überlisten. Das ist der anstrengende Teil. Und Mom und Dad müssen mit dir arbeiten, nicht gegen dich.« Sie sah Louise an. »Mrs.Knowlton, Sie haben da einen klugen und wunderbaren Jungen, aber er schafft das nicht alleine. Dazu braucht es die ganze Familie.«
Louise seufzte; innerlich bereitete sie sich schon auf die schwierige Aufgabe vor. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich spreche mit Mel. Keine Donuts mehr.«
Nachdem die Knowltons fort waren, ging Claire hinüber zu Vera. »Haben wir nicht um drei einen Patienten?«
»Wir hatten«, sagte Vera, während sie verdutzt den Telefonhörer auflegte. »Das war Mrs. Monaghan. Es ist die zweite Absage für heute.«
Aus dem Augenwinkel nahm Claire eine Bewegung im Wartezimmer wahr. Durch das Schiebefenster der Rezeption sah sie einen Mann auf der Couch sitzen. Etwas korpulent, nicht besonders gut aussehend, mit einem traurigen Clownsgesicht, das durch einen unvorteilhaften Bürstenschnitt noch betont wurde, machte er den Eindruck, als ob ihm in diesem Moment jeder andere Ort lieber gewesen wäre als eine Arztpraxis.
»Und wer ist das?«
»Ach, das ist bloß so ein Zeitungsreporter, der mit Ihnen reden will. Er heißt Mitchell Groome.«
»Ich hoffe, Sie haben ihm gesagt, daß ich nicht zu sprechen bin.«
»Ich habe ihm Ihr übliches ›Kein Kommentar‹ weitergegeben. Aber dieser Kerl besteht darauf, auf Sie zu warten.«
»Von mir aus kann er so lange warten, wie er will. Ich rede mit keinem Reporter mehr. Steht noch irgendwer auf
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