Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
und Statur anbetraf, längst übertroffen, und ihr kleiner Scotty war zurückgeblieben, ein blasses, schmächtiges Kind. So sehr wünschte er sich, erwachsen zu werden, daß er sich vorige Woche bei dem Versuch, seinen nicht vorhandenen Bart zu rasieren, ins Kinn geschnitten hatte. Er war ihr Erstgeborener, ihr bester Freund. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn die Zeit plötzlich stehengeblieben wäre und sie ihn hätte behalten können, so wie er immer gewesen war, ein süßes, liebes Kind. Aber sie wußte, daß das Kind bald verschwunden sein würde.
    Die Verwandlung hatte bereits eingesetzt.
    Das erste Anzeichen hatte sie vor ein paar Tagen bemerkt, als er wie üblich aus dem Bus gestiegen war. Sie war am Fenster gewesen und hatte zugesehen, wie er auf das Haus zugekommen war, als sie etwas ebenso Unerklärliches wie Beängstigendes beobachtet hatte. Er war plötzlich stehengeblieben und hatte zu einem Baum hochgeblickt, in dem drei Eichhörnchen saßen. Sie hatte geglaubt, er sei einfach neugierig. Daß er wie seine kleine Schwester Kitty versuchen würde, sie herunterzulocken, um sie zu streicheln. Um so mehr war sie erschrocken, als er sich auf einmal gebückt, einen Stein aufgehoben und ihn in die Baumkrone geschleudert hatte.
    Die Eichhörnchen waren rasch ein paar Stockwerke höher geklettert.
    Sie hatte betroffen zugesehen, wie Scotty einen weiteren Stein geworfen hatte, und dann noch einen; sein dünner Körper angespannt wie eine mit rasendem Zorn geladene Sprungfeder. Stein um Stein war hinauf in das Geäst geflogen. Als er endlich aufhörte, war er völlig erschöpft und atmete schwer. Dann hatte er sich zum Haus umgewandt.
    Sein Gesichtsausdruck hatte sie erschrocken vom Fenster zurückweichen lassen. Einen fürchterlichen Moment lang hatte sie gedacht: Das da ist nicht mein Sohn.
    Jetzt, als sie zusah, wie er sich dem Haus näherte, fragte sie sich, welcher Sohn wohl durch die Tür treten würde. Ihr Sohn, ihr wirklicher Sohn, lieb und lächelnd, oder der häßliche Fremde, der so aussah wie Scotty? Früher hätte sie ihn streng zurechtgewiesen, wenn er mit Steinen nach Tieren geworfen hätte.
    Früher hatte sie nie Angst vor ihrem eigenen Kind gehabt.
    Faye hörte Scottys Schritte auf der Veranda. Mit pochendem Herzen drehte sie ihren Rollstuhl zur Tür, um sein Gesicht zu sehen, wenn er hereinkäme.

7
    Es war unschwer zu erkennen, daß der vierzehnjährige Barry Knowlton der Sohn seiner Mutter war. Die Ähnlichkeit war verblüffend genug, um auf den ersten Blick ins Auge zu fallen. Barry und Louise waren wie zwei fröhliche Dampfnudeln, beide mit roten Haaren und Apfelbäckchen, beide mit weichen, runden Mündern. Ihr Begrüßungslächeln konnte sogar Claires trübe Stimmung vertreiben.
    Seit der Schießerei im Klassenzimmer vor fast einer Woche war Claire jeden Morgen mit der furchtbaren Erkenntnis erwacht, daß ihr Umzug nach Tranquility ein Fehler gewesen war. Erst vor acht Monaten war sie voller Zuversicht hier angekommen und hatte den größten Teil ihrer Ersparnisse in den Kauf einer Praxis gesteckt, von deren Erfolg sie überzeugt gewesen war. Warum denn auch nicht? Sie hatte eine gutgehende Praxis in Baltimore gehabt. Aber ein Prozeß mit großer Öffentlichkeit würde genügen, um alles zu zerstören.
    Jeden Tag, wenn sie aus dem Fenster ihrer Praxis blickte und den Briefträger kommen sah, bereitete sie sich innerlich auf die Zustellung vor, die sie so sehr fürchtete. Paul Darnell hatte gesagt, sie würde von seinem Anwalt hören, und sie bezweifelte nicht, daß er seine Drohung wahr machen würde.
    Ist es zu spät, um wieder fortzugehen? Das war die Frage, die sie sich jetzt jeden Tag stellte. Ist es zu spät, um nach Baltimore zurückzukehren?
    Sie zwang sich zu lächeln, als sie das Sprechzimmer betrat, wo Barry und seine Mutter warteten. Endlich gab es einmal einen Lichtblick in ihrem Tag. Die beiden freuten sich offenbar aufrichtig, sie zu sehen. Barry hatte schon seine Stiefel ausgezogen; er stand auf der Waage und beobachtete gespannt, wie das Gegengewicht auf und ab wippte.
    »He, ich glaube, ich habe noch ein Pfund abgenommen!« verkündete er.
    Claire sah in der Patientenakte nach und warf dann einen Blick auf die Anzeige. »Nur noch zweihundertvierundzwanzig Pfund. Das heißt, du hast zwei Pfund abgenommen. Glückwunsch!«
    Barry stieg von der Waage, worauf das Gegengewicht mit einem lauten Knall nach oben schoß. »Ich glaube, mein Gürtel fühlt sich schon ein bißchen

Weitere Kostenlose Bücher