Trügerische Ruhe
Flanders endlich bereit, der Wahrheit ins Auge zu sehen.«
»Und was war das?«
»Methamphetamin. Ein Ausbruch von Drogenmißbrauch in den Schulen. Plötzlich stand der Name dieser Stadt für die dunkle Seite von Amerika.«
»Aber was hat das mit Tranquility zu tun?«
»Lesen Sie denn Ihre eigene Zeitung nicht? Sehen Sie sich doch nur an, was in Ihrer Nachbarschaft so alles geschieht. Da waren zunächst diese Straßenkrawalle an Halloween. Dann prügelt ein Junge seinen Hund zu Tode, und in der Schule kommt es zu Schlägereien. Und schließlich diese Schießerei.«
Sie starrte wieder wie gebannt auf den Gehsteig, wo der Briefträger immer noch mit Vera plauderte. Um Himmels willen, bring endlich die Post rein!
»Ich habe die Flanders-Geschichte über Monate hinweg verfolgt«, fuhr Groome fort. »Ich habe beobachtet, wie diese Stadt regelrecht implodiert ist. Die Eltern haben den Schulen die Schuld gegeben. Die Kinder haben sich gegen ihre Lehrer, gegen ihre eigenen Familien gewandt. Als ich von den Problemen in Ihrer Stadt gehört habe, war mein erster Gedanke Methampetamin. Ich weiß, daß Sie bei diesem Darnell-Jungen einen Drogentest gemacht haben müssen. Können Sie mir wenigstens das eine sagen: Ist bei ihm Methamphetamin festgestellt worden?«
Immer noch mit den Gedanken woanders, antwortete sie:
»Nein.«
»Irgend etwas anderes?«
Sie antwortete nicht. Tatsächlich wußte sie es auch nicht, denn sie hatte noch nichts von dem Labor in Boston gehört.
»Also war da doch etwas « , sagte er, ihr Schweigen interpretierend.
»Ich bin nicht die Ärztin des Jungen. Sie müssen Dr. DelRay fragen.«
Groome schnaubte verächtlich. »DelRay sagt, es ist eine Ritalinentzugs-Psychose. Etwas derart Seltenes, daß nur eine Handvoll anekdotenhafter Berichte darüber existieren.«
»Sie akzeptieren die Diagnose nicht?«
Er sah sie unverwandt an. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sie akzeptieren.«
Allmählich begann sie Mitchell Groome zu mögen.
Die Eingangstur öffnete sich, und Vera stürmte mit der Post herein. Sie deponierte den ganzen Haufen kurzerhand auf ihrem Schreibtisch. Claire warf einen prüfenden Blick auf den Stapel von Geschäftsbriefen, und ihre Kehle wurde trocken.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie zu Groome. »Ich habe zu tun.«
»Flanders, Iowa. Denken Sie dran«, meinte er. Er winkte ihr kurz zu, bevor er das Gebäude verließ.
Claire nahm die Post, ging direkt in ihr Büro und schloß die Tür.
An ihrem Schreibtisch durchwühlte sie hastig den ganzen Stapel und lehnte sich dann mit einem Seufzer der Erleichterung zurück. Wieder ein Tag Schonfrist; unter den Absendern war kein Anwalt. Vielleicht hatte Paul Darnell nur geblufft; vielleicht würde das Ganze doch keine Folgen haben.
Einen Augenblick lang saß sie mit zurückgelehntem Kopf da, und ihre Anspannung schmolz dahin. Dann griff sie nach dem ersten Umschlag und riß ihn auf.
Sekunden später saß sie aufrecht und stocksteif in ihrem Sessel.
In dem Umschlag war eine kurze Notiz von Rachel Sorkin, der Frau, die Elwyn Clydes Schußverletzung gemeldet hatte.
Dr. Elliot, dieser Brief war heute in meiner Post. Ich dachte, Sie sollten davon wissen.
Rachel.
P. S.: Ich glaube kein Wort von alldem.
Beigefügt war ein maschinegeschriebener Brief:
An alle, die es betrifft: Hiermit möchte ich Sie über einen beunruhigenden Vorfall informieren. Am dritten November hat Dr.Claire Elliot einen Patienten des Krankenhauses tätlich angegriffen. Obwohl es eine Reihe Zeugen gab, ist der Fall nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Wenn Dr.Elliot Ihre Ärztin ist, sollten Sie vielleicht einmal über Alternativen nachdenken. Die Patienten haben das Recht, Bescheid zu wissen.
Eine besorgte medizinische Fachkraft
Drei Männer warteten auf sie im Sitzungszimmer des Krankenhauses. Sie kannte Dr. Sarnicki nur flüchtig, aber sie hatte einen durchaus positiven Eindruck von ihm gewonnen. Er war ein Mann von liebenswürdig zerknautschtem Äußeren, mit sanfter Stimme, der ebenso als gewissenhafter Arzt wie als geschickter Diplomat bekannt war; noch vor kurzem hatte er bei den Vertragsverhandlungen des Krankenhauses mit dem Pflegepersonal erfolgreich vermittelt. Der zweite Mann war Roger Hayes, der Verwaltungsdirektor, von dem sie nicht viel mehr wußte, als daß er stets verbindlich lächelte.
Den dritten Mann kannte sie nur zu gut. Es war Adam DelRay.
Sie begrüßten sie mit höflichem Nicken, als sie ihren Platz am Konferenztisch
Weitere Kostenlose Bücher