Trügerische Ruhe
tief vergraben und außerdem in einen festen Lehmklumpen eingebettet, wodurch sie noch besser geschützt waren.« Sie begann das Häufchen Knochen zu durchwühlen wie eine Näherin, die den passenden Knopf sucht. »Hier«, sagte sie, indem sie einen auswählte und unter das Licht hielt.
Der Einschnitt war deutlich zu erkennen; er war so tief, daß er den Knochen fast in zwei Teile gespalten hätte.
»Das ist eine Abwehrverletzung«, erklärte Lucy. »Dieses Kind – nehmen wir an, es war ein Mädchen – hat die Hände erhoben, um sich vor seinem Angreifer zu schützen. Die Klinge hat sich in seine Hand gebohrt – tief genug, um den Handwurzelknochen fast zu spalten. Das Mädchen ist erst acht oder neun und recht zierlich gebaut, so daß es kaum eine Chance hat, sich zu wehren. Und wer immer mit diesem Messer zugestochen hat, war sehr stark – stark genug, um die Hand glatt zu durchbohren.
Das Mädchen dreht sich um. Vielleicht steckt die Klinge noch in seinem Fleisch, vielleicht hat der Angreifer sie auch herausgezogen und will erneut zustechen. Das
Mädchen will fliehen, doch er verfolgt es. Dann stolpert sie, oder er bringt sie zu Fall, und sie stürzt und liegt mit dem Gesicht nach unten am Boden. Das ist deshalb wahrscheinlich, weil die Brustwirbel Verletzungen aufweisen, die von einer breiten Klinge – vielleicht einem Beil – stammen, die von hinten eingedrungen ist. Es gibt auch einen Einschnitt im Oberschenkelknochen, von einem Hieb in die Rückseite des Oberschenkels, was bedeutet, daß sie inzwischen am Boden liegt. Keine dieser Verletzungen ist notwendigerweise tödlich. Falls sie noch am Leben ist, blutet sie jetzt stark. Was dann geschieht, wissen wir nicht, weil uns die Knochen nichts darüber verraten. Was wir wissen, ist, daß sie bäuchlings am Boden liegt und weder weglaufen noch sich verteidigen kann. Und irgendwer hat ihr gerade ein Beil oder eine Axt in den Oberschenkel getrieben.«
Vorsichtig legte sie den Handwurzelknochen auf den Tisch zurück. Er war nur so groß wie ein Kieselstein – ein unscheinbares Überbleibsel eines schrecklichen Todes. »Das alles erzählen mir diese Knochen.«
Einen Augenblick lang sprach niemand. Dann fragte Claire leise: »Was ist mit dem anderen Kind geschehen?«
Lucy schien sich aus einer Art Trance befreien zu müssen.
»Die Kinder waren ungefähr im gleichen Alter. Bei diesem hier fehlen viele Knochen, aber soviel kann ich Ihnen sagen: Er – oder sie – hat einen schweren und vermutlich tödlichen Schlag auf den Kopf erhalten. Die Kinder wurden zusammen beigesetzt, in einem Sarg. Ich nehme an, daß sie bei ein und demselben Vorfall ums Leben gekommen sind.«
»Es muß doch Aufzeichnungen darüber geben«, sagte Lincoln. »Irgendwelche alten Berichte, aus denen hervorgeht, wer diese Kinder waren.«
»Tja, wie es der Zufall will, kennen wir ihre Namen schon.«
Der Sprecher war Vince, der pferdeschwänzige Doktorand. »Aufgrund der Jahreszahl auf einer Münze, die in derselben Erdschicht gefunden wurde, können wir sagen, daß sie nach 1885 gestorben sein müssen. Ich habe die Grundbücher des Bezirks durchgesehen und herausgefunden, daß das ganze Land entlang der südlichen Biegung des Locust Lake einer Familie namens Gow gehört hat. Diese Knochen sind die sterblichen Überreste von Joseph und Jenny Gow, Geschwister, acht und zehn Jahre alt.« Vince grinste breit. »Was wir hier ausgebuddelt haben, Leute, ist offenbar die Familiengruft der Gows.«
Diese Enthüllung hatte für Claire nichts ausgesprochen Komisches, und es fiel ihr unangenehm auf, daß einige der Studenten lachten.
»Weil es ein Sargbegräbnis war«, erklärte Lucy, »hatten wir schon vermutet, daß es sich um einen Privatfriedhof handeln müßte. Ich fürchte, wir haben ihre letzte Ruhe gestört.«
»Dann wissen Sie also, wie die Kinder gestorben sind?« fragte Claire.
»Es ist schwer, an zeitgenössische Berichte heranzukommen, weil die Gegend damals sehr dünn besiedelt war«, sagte Vince. »Was wir haben, ist das Sterberegister des Bezirks. Der Tod der beiden Gow-Geschwister wurde am gleichen Tag registriert, am 15. November 1887. Zusammen mit dem Tod von drei weiteren Familienmitgliedern.«
Einen Moment lang herrschte entsetztes Schweigen.
»Wollen Sie damit sagen, daß alle fünf an einem Tag gestorben sind?« fragte Claire.
Vince nickte. »Offensichtlich wurde die Familie massakriert.«
9
Karottensticks und Salzkartoffeln und eine mikroskopisch kleine Scheibe
Weitere Kostenlose Bücher