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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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breiten Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, bedeckt mit einer Plastikplane, lagen die jüngsten Neuzugänge dieses sorgfältig katalogisierten Beinhauses.
    Lucy betätigte einen Schalter an der Wand. Leuchtstoffröhren begannen zu summen und tauchten den Tisch in ein unnatürliches, grelles Licht. Claire und Lincoln schlossen sich dem Kreis von Studenten an. Das Licht war unerbittlich und ließ die Konturen der um den Tisch versammelten Gesichter scharf hervortreten.
    Lucy entfernte die Plastikplane.
    Die Überreste der beiden Kinderskelette waren Seite an Seite ausgelegt worden, jeder Knochen in seiner annähernden anatomischen Position. Bei einem Skelett fehlten der Brustkorb, die Unterschenkelknochen eines Beines und der rechte Arm. Das andere schien so gut wie komplett zu sein, mit Ausnahme der kleinen Handknochen.
    Lucy bezog ihre Position am Kopfende nahe den beiden Schädeln. »Was wir hier vor uns sehen, ist eine Zusammenstellung der menschlichen Überreste aus der Grabung Nr. 72 am Südende des Locust Lake. Die Ausgrabungsarbeiten wurden gestern abgeschlossen. Zur besseren Orientierung habe ich die Karte der Grabungsstätte dort drüben aufgehängt. Wie Sie sehen, liegt der Fundort unmittelbar am Bachbett des Meegawki. In dieser Gegend hat es im vergangenen Frühjahr heftige Regenfälle und Überschwemmungen gegeben, was wohl dazu geführt hat, daß diese Begräbnisstätte freigelegt wurde.«
    Sie sah auf den Tisch hinab. »Lassen Sie uns also beginnen. Ich möchte, daß Sie zunächst die Überreste selbst in Augenschein nehmen. Sie dürfen Sie gerne in die Hand nehmen; sehen Sie sich alles ganz genau an. Wenn Sie irgend etwas über den Grabungsort wissen möchten,
    fragen Sie nur. Und dann lassen Sie uns Ihre Schlußfolgerungen hinsichtlich Alter und Rasse sowie zur Datierung des Begräbnisses hören. Diejenigen, die an der Grabung teilgenommen haben, halten bitte den Mund. Wir wollen sehen, was die anderen von sich aus herausfinden.«
    Einer der Studenten griff nach einem Schädel.
    Lucy trat zurück und ging schweigend um den Tisch herum, wobei sie ab und zu über eine Schulter sah, um die Arbeit zu beobachten. Diese Versammlung ließ Claire an ein bizarres Tafelritual denken – die Überreste, die wie ein Festmahl auf dem Tisch arrangiert waren, all die eifrigen Hände, die nach den Knochen griffen, sie im Licht hin und her drehten und sie dann in andere Hände weitergaben. Anfangs wurde kein Wort gesprochen; nur hin und wieder wurde die Stille von dem metallischen Geräusch eines Maßbandes durchbrochen, das aus- und wieder eingefahren wurde.
    Jemand reichte Claire einen der Schädel. Der Unterkiefer fehlte.
    Sie hielt ihn unter das Licht und betrachtete ihn von allen Seiten. Das letzte Mal, daß sie einen Schädel in der Hand gehalten hatte, war während des Medizinstudiums gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie jedes Foramen, jede Wölbung benennen können, doch wie so viele andere Fakten, mit denen sie während der vierjährigen Ausbildung ihr Gedächtnis vollgestopft hatte, waren diese anatomischen Bezeichnungen längst vergessen, und praktischere Informationen wie Behandlungstarife und Telefonnummern hatten ihren Platz eingenommen. Sie drehte die Unterseite nach oben und sah, daß die Zähne im Oberkiefer noch vorhanden waren. Die dritten Backenzähne waren noch nicht durchgebrochen. Ein Kindermund.
    Vorsichtig setzte sie den Schädel ab. Ein Gefühl der lebendigen Wirklichkeit hinter dem Objekt, das sie gerade in der Hand gehalten hatte, durchfuhr sie. Sie dachte an Noah im Alter von neun Jahren, sein Haar ein Wust von dunklen Locken, die seidige Glätte seines Gesichts an ihrer Haut- und sie starrte diesen Schädel eines Kindes an, dessen Fleisch schon längst verwest war.
    Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Lincolns Hand auf ihrer Schulter ruhte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er, und sie nickte. Sein Blick wirkte traurig, melancholisch in dem grellen Kunstlicht. Sind wir die einzigen, denen das Leben dieses Kindes nicht aus dem Sinn geht? fragte sie sich. Die einzigen, die mehr als eine leere Hülse aus Kalzium und Phosphat sehen?
    Eine der Studentinnen, eine jüngere, schlankere Version von Lucy, stellte die erste Frage. »War es ein Sargbegräbnis? Und war das Terrain Wald oder Feld?«
    »Das Terrain war leicht bewaldet, alles neuer Bewuchs«, antwortete Lucy. »Wir haben in der Tat Eisennägel und Fragmente eines Sargs gefunden, aber das Holz war zum größten Teil

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