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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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verrottet.«
    »Und der Boden?« fragte ein Student.
    »Lehm, leicht gesättigt. Warum fragen Sie?«
    »Ein hoher Lehmanteil trägt zur Konservierung von Überresten bei.«
    »Richtig. Welche anderen Faktoren beeinflussen die Erhaltung von Überresten?«
    Lucy ließ ihren Blick über die Runde schweifen. Ihre Studenten reagierten mit einem Eifer, der Claire fast ungehörig vorkam. Sie waren so mit den mineralisierten Überresten beschäftigt, daß sie vergessen hatten, wofür diese Knochen standen: lebendige, lachende Kinder.
    »Bodendichte – Feuchtigkeit –«
    »Umgebungstemperatur.«
    »Fleischfressende Tiere.«
    »Tiefe der Grabstätte. Sonneneinstrahlung.«
    »Das Alter zum Zeitpunkt des Todes.«
    Lucy sah die Sprecherin erwartungsvoll an. Es war die Studentin, die wie ein jüngerer Klon von ihr aussah, genau wie sie in Jeans und Baumwollhemd. »Wie beeinflußt das Alter des Verstorbenen den Zustand der Knochen?«
    »Der Schädel eines jungen Erwachsenen bleibt länger erhalten als der einer älteren Person, vielleicht wegen der stärkeren Mineralisation.«
    »Das verrät mir aber noch nicht, wie lange diese Skelette in der Erde gelegen haben. Wann sind diese Individuen gestorben?«
    Die Reaktion war Schweigen.
    Lucy schien nicht sehr enttäuscht darüber zu sein, daß sie keine Antwort bekam. »Die korrekte Antwort«, sagte sie, »lautet: Wir wissen es nicht. Nach hundert Jahren verfallen manche Skelette zu Staub, während andere fast keine Verwitterungserscheinungen aufweisen. Trotzdem können wir einige Schlüsse ziehen.«
    Sie beugte sich über den Tisch und nahm ein Schienbein zur Hand. »Beachten Sie das Abblättern der obersten Schicht bei manchen der längeren Knochen, dort, wo die periphere Lamellenstruktur natürliche Spaltlinien aufweist. Worauf weist das Ihrer Ansicht nach hin?«
    »Wechsel zwischen feuchten und trockenen Perioden«, sagte der Lucy-Klon.
    »Richtig. Diese Überreste wurden durch den Sarg für einige Zeit geschützt. Dann aber verrottete der Sarg, und die Knochen waren der Feuchtigkeit ausgesetzt, zumal in unmittelbarer Nähe des Bachbetts.« Sie sah einen jungen
    Mann an, den Claire als einen der Doktoranden erkannte, die bei der Ausgrabung geholfen hatten. Mit seinen langen blonden Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und den drei goldenen Ohrringen in einem Ohr hätte er in einem früheren Jahrhundert glatt als Pirat durchgehen können. Nur seine Akademiker-Nickelbrille störte diesen Gesamteindruck.
    »Vince«, sagte Lucy, »erzählen Sie uns, was Sie über die Überschwemmungen in der Gegend herausgefunden haben.«
    »Ich bin bis zum Beginn der Aufzeichnungen in den zwanziger Jahren zurückgegangen«, sagte Vince. »Zweimal gab es katastrophale Überschwemmungen: Im Frühjahr 1946 und dann wieder letztes Frühjahr, als der Locust River über die Ufer trat. Ich vermute, daß dabei diese Begräbnisstätte freigelegt wurde. Erosion des Meegawki-Bachbetts aufgrund heftiger Regenfälle.«
    »Wir wissen also von zwei Perioden, in denen der Fundort großer Nässe ausgesetzt war, jeweils gefolgt von trockeneren Jahren; die Folge davon war das Splittern und Abblättern der Knochenrinde.« Lucy legte das Schienbein wieder hin und griff nach dem Oberschenkelknochen. »Kommen wir nun zu der interessantesten Entdeckung. Ich meine diesen Einschnitt an der Rückseite des Oberschenkelknochens. Es sieht nach einer Schnittverletzung aus, aber der Knochen ist so stark verwittert, daß die Ränder des Einschnitts unscharf geworden sind. Wir können also nicht sagen, ob es eine Green-Bone-Reaktion gegeben hat.« Sie bemerkte Lincolns fragenden Blick.
    »Eine Green-Bone-Reaktion findet statt, wenn lebendes Knochengewebe bei einer Stichverletzung verbogen oder verdreht wird. Man kann daran erkennen, ob der Knochen post mortem oder ante mortem verletzt wurde.«
    »Und an diesem Knochen können Sie das nicht erkennen?«
    »Nein, er war zu lange den Elementen ausgesetzt.«
    »Wie können Sie dann feststellen, ob es sich um ein Tötungsdelikt gehandelt hat?«
    »Wir müssen uns auf die übrigen Knochen konzentrieren. Und da werden wir die Antwort finden.«
    Sie griff nach einer kleinen Papiertüte und leerte ihren Inhalt auf dem Tisch aus. Kleine Knochen kullerten wie graue Würfel heraus.
    »Die Handwurzelknochen«, sagte sie. »Diese stammen von der rechten Hand. Handwurzelknochen sind recht massiv – sie lösen sich nicht so schnell auf wie andere Knochen. Die hier waren ziemlich

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