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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Jetzt hatte der Regen sich in Graupel verwandelt; sie hörten, wie die Eiskörnchen gegen die Windschutzscheibe trommelten. Die Straße war tückisch glatt geworden, nachdem die Temperatur bis auf den gefährlichen Grenzbereich zwischen Frieren und Tauen gefallen war, so daß sich auf dem Asphalt eine wäßrige Eisschicht gebildet hatte. Sie war froh, daß Lincoln hinter dem Steuer saß und nicht sie selbst. Ein Mann, der fünfundvierzig Winter in diesem Klima erlebt hatte, wußte die Gefahren der Witterung richtig einzuschätzen.
    Er drehte die Heizung auf, und das Kondenswasser auf der Scheibe begann in Streifen zu verdunsten.
    »Wir leben seit zwei Jahren getrennt«, fuhr er fort. »Das Problem ist, daß sie einfach nicht loslassen kann. Und ich bringe es nicht übers Herz, sie dazu zu zwingen.«
    Sie zuckten beide zusammen, als das Auto vor ihnen plötzlich bremste und auszuscheren begann. Es schlingerte wild von einer Straßenseite zur anderen. Der Fahrer bekam den Wagen gerade noch rechtzeitig unter Kontrolle, um einem entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen.
    Claire lehnte sich mit pochendem Herzen zurück. »Mein Gott!«
    »Die fahren alle viel zu schnell.«
    »Sollten wir vielleicht besser kehrtmachen und nach Hause fahren?«
    »Wir haben schon über die Hälfte der Strecke hinter uns. Da können wir ebensogut weiterfahren. Oder würden Sie es lieber sein lassen?«
    Sie schluckte. »Nein, wir können ruhig weiterfahren, wenn es für Sie okay ist.«
    »Wir lassen uns einfach Zeit. Allerdings werden wir wohl ziemlich spät zurück sein.« Er warf ihr einen Blick zu. »Was ist mit Noah?«
    »Er ist inzwischen schon ziemlich selbständig. Ich bin sicher, daß es ihm nichts ausmachen wird.«
    Lincoln nickte. »Scheint ein guter Junge zu sein.«
    »Ja, das ist er«, bestätigte sie. Dann verbesserte sie sich mit einem verlegenen Lächeln. »Meistens.«
    »Es ist wohl nicht so einfach, wie es aussieht«, meinte Lincoln. »Das höre ich immer wieder von Eltern. Ein Kind großzuziehen ist offenbar der schwierigste Job von allen.«
    »Und es ist noch hundert Mal schwieriger, wenn man es alleine macht.«
    »Was ist denn mit Noahs Vater?«
    Claire schwieg eine Weile. Sie mußte sich regelrecht dazu zwingen, auf diese Frage zu antworten. »Er ist vor zwei Jahren gestorben.« Er murmelte so etwas wie »Das tut mir leid«, doch sie hörte ihn kaum. Für einige Augenblicke war das einzige Geräusch das rhythmische Kratzen der Scheibenwischer. Zwei Jahre, und es fiel ihr immer noch schwer, darüber zu reden. Sie brachte es immer noch nicht fertig, das Wort »Witwe« zu benutzen. Eine Frau von achtunddreißig Jahren sollte nicht Witwe werden.
    Und ein fröhlicher, liebevoller Mann von neununddreißig sollte nicht an einem Lymphom sterben.
    In dem eisigen Nebel tauchten plötzlich blinkende Lichter auf. Ein Unfall. Und doch fühlte sie sich sonderbar geborgen, wenn sie mit diesem Mann fuhr. Geschützt und abgeschirmt gegen alle Gefahr. Im Schrittempo fuhren sie an einer Reihe von Einsatzfahrzeugen vorbei: zwei Streifenwagen, ein Abschleppfahrzeug und eine Ambulanz. Ein Ford Bronco war von der Straße abgekommen und lag nun auf der Seite, von glitzerndem Reif überzogen. Sie fuhren schweigend vorüber, beide erschüttert durch diese krasse Erinnerung daran, wie schnell ein Leben aus der Bahn geworfen werden konnte – wie schnell es zu Ende sein konnte. Das Erlebnis fügte einem ohnehin schon deprimierenden Tag ein weiteres düsteres Detail hinzu.
    Lucy Overlock kam zu spät zu ihrem eigenen Seminar. Fünfzehn Minuten, nachdem sich ihre zwei Doktoranden und zehn Studenten in dem Labor im Keller des Museums eingefunden hatten, trat mit tropfnasser Regenjacke die Dozentin selbst ein. »Bei diesem Wetter hätte ich das Seminar wohl besser ausfallen lassen«, sagte sie. »Jedenfalls bin ich froh, daß Sie alle heil hier angekommen sind.« Sie hängte ihre Regenkleidung auf. Darunter trug sie das Übliche: Jeans und ein Baumwollhemd, was auch der Umgebung durchaus angemessen war. Der Museumskeller war sowohl feucht als auch staubig, eine vollgestopfte Höhle, die nach den Artefakten roch, die darin aufbewahrt wurden. Entlang der Wände befanden sich Regale mit Hunderten von Holzkisten, deren Inhalt auf Etiketten mit verblaßter Schreibmaschinenschrift vermerkt war:
    » Stonington #11: Gerätschaften aus Muschelschalen, Pfeilspitzen, Verschiedenes. «
    » Pittsfield #32: Skelettfragmente, männlicher Erwachsener. «
    Auf einem

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