Trügerische Ruhe
Skateboards jetzt verboten. Wenigstens würde ihn niemand nerven, wenn er allein hier beim Müllcontainer stand.
Er hörte das leise Brummen eines Motors und blickte zur Straße hin. Ein dunkelgrünes Auto schlich vorbei, so langsam, daß es fast stillzustehen schien. Die Fenster
waren so stark getönt, daß man nicht durchsehen konnte, und Noah konnte nicht erkennen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß.
Der Wagen kam direkt gegenüber zum Stehen. Irgendwie spürte Noah, daß der Fahrer ihn anstarrte, genauso sicher, wie er selbst zurückstarrte.
Er ließ die Zigarette fallen und trat sie rasch aus. Bloß nicht erwischen lassen; noch einmal Nachsitzen war das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Nachdem das Beweisstück aus dem Weg geschafft war, konnte er sich getrost umsehen und dem Fahrer ins unsichtbare Auge sehen. Als das Auto schließlich wegfuhr, hatte er das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben.
Noahs Blick fiel auf die halbgerauchte Zigarette, die jetzt zerdrückt am Boden lag. Welch eine Verschwendung. Er wägte gerade die Chancen ab, den Rest doch noch zu retten, als er die Schulglocke hörte, die das Ende der Pause verkündete.
Dann hörte er die Rufe. Sie kamen von dem Platz vor der Schule.
Er bog um die Ecke des Gebäudes und sah eine Schar von Schülern, die auf dem Rasen umhersprangen und im Chor riefen: »Weiberschlacht, Weiberschlacht!«
Das durfte er sich nicht entgehen lassen.
Er drängte sich vor, um noch etwas von der Show mitzubekommen, bevor die Lehrer eingreifen würden, und dann krachten auch schon die beiden kämpfenden Mädchen praktisch in ihn hinein. Er stolperte rückwärts und versuchte, wieder einen sicheren Abstand zu gewinnen. Die Verbissenheit des Kampfes schockierte ihn. Das hier war schlimmer als jede Rauferei zwischen Jungen; das war wirklich eine Schlacht – mit Kratzen und An-den-Haaren-Ziehen und allem. Die Zurufe der Menge dröhnten in seinen Ohren. Er warf einen Blick zurück auf den Kreis der Zuschauer und sah ihre ekstatischen Gesichter, roch die Blutgier so deutlich wie Moschusduft.
Eine merkwürdige Erregung begann sich in ihm zu rühren. Er spürte, wie seine Hand sich zur Faust ballte und ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Beide Mädchen waren inzwischen blutverschmiert, und der Anblick fesselte ihn. Spornte ihn an. Er schob sich wieder nach vorne, mitten in das Gewühl der Zuschauer, und war wütend, daß er keinen besseren Platz ergattern konnte.
»Weiberschlacht, Weiberschlacht!«
Jetzt stimmte auch er in das Rufen ein, und seine Erregung stieg mit jedem Blick auf eines der blutigen Gesichter, den er erhaschen konnte.
Dann fiel sein Blick auf Amelia, und er verstummte augenblicklich. Sie stand abseits am Rand der Rasenfläche und beobachtete das Geschehen mit ungläubigem Entsetzen.
Betreten wandte er sich ab, bevor sie ihn sehen konnte, und floh in das Schulgebäude.
In der Jungentoilette starrte er sein Spiegelbild an. Was ist mit all den Leuten da draußen geschehen? dachte er. Was ist mit mir geschehen?
Er spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, doch er spürte es kaum.
»Sie haben sich wegen eines Jungen geprügelt«, sagte Fern. »Jedenfalls ist das die Version, die ich gehört habe. Es fing an mit ein paar Beleidigungen, und im nächsten Moment waren sie schon drauf und dran, einander die Augen auszukratzen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, nach Mrs. Horatios Beerdigung würden die Schüler einander unterstützen. Zueinander stehen. Aber das ist schon die vierte Schlägerei innerhalb von zwei Tagen, Lincoln. Ich habe sie einfach nicht unter Kontrolle. Ich brauche einen Polizisten, der in der Schule Wache hält.«
»Nun, das würde ich für eine übertriebene Reaktion halten«, antwortete er skeptisch, »aber wenn du willst, kann ich Floyd Spear sagen, er soll ein paarmal am Tag in der Schule vorbeischauen.«
»Nein, du verstehst das nicht. Wir brauchen jemanden, der den ganzen Tag hier ist. Ich weiß nicht, wie es sonst gehen soll.«
Lincoln seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Fern hatte den Eindruck, daß er von Tag zu Tag mehr ergraute, genau wie sie selbst. Am Morgen noch hatte sie die verräterischen grauen Haare entdeckt, die sich unter die blonden geschmuggelt hatten, und sie hatte festgestellt, daß ihr aus dem Spiegel das Gesicht einer Frau mittleren Alters entgegenblickte. Aber viel schmerzlicher als der Anblick ihres eigenen alternden Spiegelbildes war es, die Veränderungen in
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