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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Hühnchenbrust.
    Louise Knowlton warf einen Blick auf das frugale Mahl, das sie ihrem Sohn soeben vorgesetzt hatte, und ihr Herz krampfte sich in mütterlichem Schuldbewußtsein zusammen. Sie ließ ihr eigenes Kind verhungern. Sie sah es an seinem Gesicht, an diesen hungrigen Augen, den kraftlos herabhängenden Schultern. Sechzehnhundert Kalorien pro Tag! Wie konnte irgendein Mensch davon leben? Barry hatte tatsächlich abgenommen, aber was war der Preis? Er war nur noch ein Schatten seiner selbst; er, der einmal solide zweihundertvierzig Pfund gewogen hatte. Obwohl sie wußte, daß er abnehmen mußte, war ihr – die ihn besser kannte als irgend jemand sonst auf der Welt – doch schmerzlich bewußt, daß ihr geliebtes Kind litt.
    Sie setzte sich vor ihren eigenen Teller, auf den sie Brathuhn und mit Butter bestrichene getoastete Brötchen gehäuft hatte. Eine kräftige, gesunde Mahlzeit für einen kalten Abend. Sie blickte über den Tisch und begegnete dem Blick ihres Mannes. Mel schüttelte stumm den Kopf. Auch er konnte es nicht mit ansehen, wie ihr Sohn hungerte.
    »Barry, Liebster, warum nimmst du dir nicht wenigstens ein Brötchen?« fragte Louise.
    »Nein, Mom.«
    »Das sind gar nicht so viele Kalorien. Du kannst ja die Soße abkratzen.«
    »Ich mag aber keine.«
    »Sieh nur, wie locker sie sind! Es ist dieses Rezept von Barbara Perrys Mutter. Das Schweineschmalz ist das Gute daran. Einen kleinen Bissen, Barry. Versuch doch nur einen Bissen!«
    Sie hielt ihm ein dampfendes Brötchen an die Lippen. Sie konnte einfach nicht anders – konnte den durch vierzehn Jahre Mutterschaft verstärkten Instinkt, diesen rosigen und bedürftigen Mund zu füttern, einfach nicht unterdrücken. Das hier war mehr als Essen; es war Liebe – in der Form eines knusprigen Brötchens, von dem die Butter auf ihre Finger troff. Sie wartete darauf, daß er ihre Gabe annahm.
    »Ich hab dir doch gesagt, ich will keins!« rief er.
    Das traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Louise wich schockiert zurück. Das Brötchen fiel ihr aus der Hand und klatschte in den glitzernden Soßensee auf ihrem Teller.
    »Barry!« sagte sein Vater.
    »Immer drängt sie mir Essen auf! Kein Wunder, daß ich so aussehe! Seht doch nur euch selbst an!«
    Louise saß mit zitternden Lippen da und bemühte sich, nicht loszuheulen. Sie sah auf das reichliche Abendessen, das sie auf den Tisch gebracht hatte. Es stand für zwei Stunden Arbeit in der Küche, ein Werk der Liebe – und wie sehr liebte sie ihren Sohn! Jetzt sah sie das Essen als das, was es war: die verlorene Liebesmühe einer fetten, dummen Mutter. Sie begann zu weinen, und ihre Tränen tropften in das Quark-Kartoffelpüree.
    »Mom!« Barry stöhnte. »O Mann, es tut mir leid!«
    »Schon gut.« Sie hob die Hand, um sein Mitleid abzuwehren. »Ich verstehe, Barry Ich verstehe, und ich werde es nicht wieder tun. Ich schwöre es.« Sie tupfte sich mit der Serviette die Tränen weg, und für einige Sekunden gelang es ihr, ihre Würde zurückzuerlangen. »Aber ich gebe mir solche Mühe und – und –« Sie vergrub das
    Gesicht in der Serviette; ihr ganzer Körper bebte von der Anstrengung, das Weinen zu unterdrücken. Sie brauchte eine Weile, bis sie merkte, daß Barry mit ihr sprach.
    »Mom. Mom?«
    Sie holte schluchzend Atem und zwang sich, ihn anzusehen.
    »Kann ich ein Brötchen haben?«
    Wortlos hielt sie ihm die Platte hin. Sie sah zu, wie er sich ein Brötchen nahm, es aufschnitt und dick mit Butter bestrich. Sie hielt die Luft an, als er den ersten Bissen nahm, als der Ausdruck der Seligkeit sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Er hatte die ganze Zeit danach gegiert, doch er hatte sich den Genuß versagt. Jetzt gab er sich ihm hin, aß ein zweites Brötchen, ein drittes. Sie beobachtete ihn bei jedem Bissen, und sie fühlte die tiefe, ursprüngliche Befriedigung einer Mutter.
    Noah lehnte an der Seitenmauer des Schulgebäudes und rauchte eine Zigarette. Es war Monate her, daß er sich zuletzt eine angesteckt hatte, und er mußte husten; seine Lungen rebellierten gegen den Rauch. Er stellte sich vor, wie all die Giftstoffe in seiner Brust herumwirbelten, über die seine Mutter ihm immer Vorträge hielt, aber wenn er sich sein Leben in dieser öden Stadt so betrachtete, war das bißchen Gift wahrlich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Er nahm noch einen Zug und hustete wieder. So richtig Spaß machte ihm das Ganze nicht, aber womit sollte er sonst die Pausen totschlagen – schließlich waren

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