Trügerische Ruhe
Lincolns Gesicht zu sehen; zu lebendig waren ihre Erinnerungen an den Mann, der er mit fünfundzwanzig gewesen war: dunkelhaarig, dunkeläugig, sein ausdrucksvolles Charaktergesicht bereits voll ausgeprägt. Das war, bevor er ein Auge auf Doreen geworfen hatte. Sie betrachtete die tiefer werdenden Falten in seinem Gesicht und dachte, was sie schon so oft gedacht hatte: Ich hätte dich so viel glücklicher machen können als Doreen.
Sie machten sich zusammen auf den Weg zu Ferns Büro. Die vierte Stunde hatte begonnen, und ihre Schritte hallten in dem leeren Korridor. Über ihren Köpfen verkündete ein Transparent: Erntetanz am 20. November! Aus Mr. Rubios Klasse hörten sie gelangweilte Stimmen, die im Chor skandierten: Me llamo Pablo. Te llamas Pablo. Se llama Pablo ...
Ihr Büro war ihr Privatbereich, und es spiegelte ihre Einstellung zum Leben wider – alles war sauber und aufgeräumt, jeder Gegenstand an seinem Platz. Die Bücher standen in einer ordentlichen Reihe, und auf dem Schreibtisch flogen keine Zettel herum. Alles unter Kontrolle. Ordnung war gut für Kinder, und Fern glaubte, daß eine Schule nur durch strikte Einhaltung der Ordnung richtig funktionieren konnte.
»Ich weiß, daß die personellen Ressourcen knapp sind«, sagte sie, »aber ich bitte dich, darüber nachzudenken, ob du nicht einen Polizisten ganztags für die Schule abstellen kannst.«
»Das würde bedeuten, einen Mann vom Streifendienst abzuziehen, Fern, und ich bin nicht überzeugt, daß das notwendig ist.«
»Und was gibt es da draußen zu patrouillieren? Menschenleere Straßen! Wenn es in dieser Stadt Probleme gibt, dann hier, in diesem Gebäude! Hier brauchen wir einen Polizisten.«
Schließlich nickte er. »Ich werde mein möglichstes tun«, sagte er und erhob sich. Seine Schultern schienen gebeugt von der Last, die er zu tragen hatte. Den ganzen Tag ringt er mit den Problemen dieser Stadt, dachte sie schuldbewußt, und nie bekommt er ein Lob dafür, nur Forderungen und Kritik. Und wenn er dann nach Hause kommt, ist da niemand – niemand, der ihn trösten könnte. Ein Mann, der das Pech hat, die falsche Frau zu heiraten, sollte nicht für den Rest seines Lebens darunter leiden müssen. Jedenfalls nicht ein so anständiger Mann wie Lincoln.
Sie ging mit ihm zur Tür. Er stand so dicht neben ihr, daß sie ihn hätte berühren können, und die Versuchung, ihn in die Arme zu nehmen, war so überwältigend, daß sie die
Hände zu Fäusten ballen mußte, um ihr zu widerstehen.
»Ich sehe mir an, was hier passiert«, sagte sie, »und ich muß mich einfach fragen, was ich falsch gemacht habe.«
»Du hast nichts falsch gemacht.«
»Sechs Jahre als Rektorin, und plötzlich muß ich um die Aufrechterhaltung der Ordnung in meiner Schule kämpfen. Und um meinen Job.«
»Fern, ich glaube wirklich, daß es nur eine vorübergehende Reaktion auf die Schießerei ist. Die Kinder brauchen Zeit, um sich davon zu erholen.« Er klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter und wandte sich zur Tür. »Es wird vorbeigehen.«
Wieder einmal blickte Claire in Mairead Temples Mund. Das Gelände schien ihr inzwischen vertraut – die pelzige Zunge, die Gaumenbögen, das Zäpfchen, das als zitternder Lappen rosigen Fleisches herabhing. Und dieser Geruch, wie ein alter Aschenbecher, derselbe Geruch, der in Maireads Küche herrschte, in der sie jetzt saßen. Es war Dienstag, Claires Tag für Hausbesuche, und Mairead war die vorletzte Patientin in ihrem Terminkalender. Wenn die Praxis schlecht läuft, wenn die Patienten zu anderen Ärzten wechseln, muß man zu verzweifelten Maßnahmen greifen. Ein Hausbesuch in Mairead Temples verrauchter Küche war eine solche verzweifelte Maßnahme. Hauptsache, die Patienten waren zufrieden.
Claire schaltete ihre Taschenlampe aus. »Ihr Hals scheint mir unverändert. Nur ein bißchen gerötet.«
»Tut immer noch gemein weh.«
»Der Abstrich war negativ.«
»Soll das heißen, ich kriege kein Penizillin mehr?«
»Tut mir leid, aber ich kann das nicht vertreten.«
Mairead klapperte mit ihrem Gebiß und funkelte Claire mit ihren wäßrigen Augen an. »Was is’n das für ’ne Behandlung?«
»Wissen Sie, Mairead, die beste Behandlung ist immer noch Vorbeugung.«
»Und?«
»Und deshalb ...« Claire warf einen Blick auf die Packung Mentholzigaretten auf dem Küchentisch. Es war eine Marke, die in der Werbung gewöhnlich mit schlanken Schickeria-Frauen in Verbindung gebracht wurde, die hautenge Kleider trugen und
Weitere Kostenlose Bücher