Trügerische Ruhe
Schnaufen der Blutdruckmanschette, dann die Antwort: »Kaum tastbar bei fünfzig. Ringer-Laktat-Lösung läuft im Schuß durch diesen Zugang. Ich habe Probleme, den zweiten zu legen ...«
Wieder war draußen eine heulende Sirene zu hören, und wieder kamen eilige Schritte auf das Haus zu. Die Officers Mark Dolan und Pete Sparks drängten sich in die Küche. Dolans und Claires Blicke trafen sich, doch er wandte die Augen rasch ab – er spürte ihren Vorwurf. Ich habe Ihnen gesagt, daß etwas nicht in Ordnung ist!
»Oben auf dem Dachboden ist ein Junge«, sagte Lincoln. »Ich habe ihm schon Handschellen angelegt. Jetzt müssen wir noch die Mutter finden.«
»Ich sehe in der Scheune nach«, sagte Dolan.
Claire protestierte: »Faye sitzt im Rollstuhl! Sie kann gar nicht raus in die Scheune. Sie muß irgendwo in diesem Haus sein.«
Dolan ignorierte sie, drehte sich um und ging geradewegs zur Tür hinaus.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Sie hatten jetzt einen Puls, so daß Claire mit der Herzmassage aufhören konnte. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß ihre Hände über und über mit Blut verschmiert waren. Sie hörte, wie Lincoln und Pete auf der Suche nach Faye von einem Zimmer zum anderen liefen, und sie hörte die Fragen der Unfallstation des Knox Hospitals, die aus dem rauschenden Funkgerät der Sanitäter kamen.
»Wie hoch ist der Blutverlust?« Es war McNallys Stimme.
»Ihre Kleider sind tropfnaß«, antwortete einer der Sanitäter. »Mindestens sechs Stichwunden in der Brust. Wir haben Sinustachykardie von einhundertsechzig, Blutdruck tastbar bei fünfzig. Eine Infusion läuft. Die zweite kriegen wir nicht in Gang.«
»Atmet sie?«
»Nein. Sie ist intubiert, und wir beuteln sie. Dr. Elliot ist bei uns.«
»Gordon«, rief Claire. »Sie braucht sofort eine Thorakotomie! Sorgen Sie für einen Chirurgen, und wir bringen sie Ihnen!«
»Wir warten auf Sie.«
Obwohl es nur Sekunden dauerte, bis das Mädchen im Krankenwagen untergebracht war, schien sich für Claire alles quälend langsam abzuspielen. Sie sah alles durch einen Nebel von Panik: den herzzerreißend kleinen Körper, der auf der Trage festgebunden wurde, das Gewirr von EKG-Kabeln und Infusionsschläuchen, die angespannten Gesichter der Sanitäter, als sie mit dem Mädchen die Verandastufen hinabliefen und die Trage in den Krankenwagen schoben.
Claire stieg mit einem der Sanitäter hinten ein, und die Tür wurde zugeschlagen. Sie kniete neben der Trage nieder, pumpte Sauerstoff in die Lungen und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten, während sie die Auffahrt entlangholperten und dann in die Hauptstraße einbogen. Auf dem Monitor geriet der Herzrhythmus des Mädchens ins Stocken. Zwei ventrikuläre Extrasystolen. Dann noch drei.
»Ventrikuläre Arrhythmien«, sagte der Sanitäter.
»Geben Sie ihr das Lidocain.«
Der Sanitäter hatte gerade begonnen, das Medikament zu injizieren, als der Krankenwagen über ein Schlagloch fuhr.
Er fiel nach hinten und blieb mit dem ausgestreckten Arm am Infusionsschlauch hängen. Die Kanüle rutschte aus der Vene, und ein Strahl Ringerlösung spritzte Claire ins Gesicht.
»Mist!« rief er.
Vom Monitor kam ein Alarmsignal. Claire blickte auf und sah eine Serie von Extrasystolen über den Bildschirm hüpfen. Sofort nahm sie die Herzmassage auf. »Beeilen Sie sich mit dem zweiten Zugang!«
Er war bereits dabei, die Verpackung aufzureißen und eine neue Kanüle auszupacken. Er band ein Tourniquet um Kittys Arm und versuchte durch mehrmaliges Klopfen, die Vene zum Anschwellen zu bringen. »Ich kann keine finden! Sie hat zuviel Blut verloren.«
Das Mädchen stand unter Schock. Ihre Venen waren kollabiert.
Das Alarmsignal heulte auf. Eine ventrikuläre Tachykardie jagte über den Bildschirm. In Panik versetzte Claire Kittys Brust einen kurzen, kräftigen Schlag – keine Veränderung.
Sie hörte das Sirren des Defibrillators. Der Sanitäter hatte bereits den Aufladungsschalter betätigt und drückte jetzt die Kontaktkissen auf Kittys Brust. Claire machte Platz, und er brachte die Paddles in Position und löste den Stromschlag aus.
Auf dem Monitor machte der Cursor einen Satz, dann formte er sich zu einer rapiden Sinustachykardie. Claire und der Sanitäter stießen hörbare Seufzer der Erleichterung aus.
»Der Rhythmus wird sich nicht halten«, meinte Claire.
»Wir brauchen die Infusion.«
Er band die Aderpresse um den anderen Arm, wobei er in dem schwankenden Fahrzeug nur mühsam das
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